Die von einem Septett junger, sensibler, amphiboider Frauen deklamierte Geschichte einer erfolgreichen Galaktik-Popband. Teil der größeren Rahmenerzählung "Barbiepuppen für Alpha Centauri"
Die Geschichte der Glamour Girls
Fast wurde es Ivanhoe nun ein wenig unheimlich zumute, denn seine Frage hatte einen viel größeren Effekt, als er erwartet hatte. Wie auf einen Befehl hin stiegen nun auch die anderen Frauen von ihren Geräten, und kamen, indem sie sich synchron ihre Stirnen und Nacken abtrockneten, näher und näher. Gleichzeitig fingen sie, einander abwechselnd, auch noch an, ihm ihre fast komplette Lebensgeschichte aufzutischen.
"Wir sind eigentlich ein Top-Harem, weißt du."
"Höchstes Niveau zu bieten in den Bereichen Unterhaltung und Animation ist uns oberste Pflicht."
"Inzwischen sind wir nicht mehr gerade Neulinge im Geschäft."
"Auch wenn man uns das nicht unbedingt ansieht."
"Unsere Jugend verbrachten wir allesamt ja noch brav in der Schule."
"Doch nach dem Abi starteten wir durch. Gemeinsam gründeten wir die "Sneaker Girls."
"Und was bedeutet "Sneaker Girls"?" fragte Ivanhoe, nur um irgendwie noch einen Fuß in diese Unterhaltung zu kriegen. Doch es war bereits gar nicht mehr so schlimm. Die Mädchen hatten sich völlig entspannt im Schneidersitz vor ihm auf den Boden gesetzt, und fuhren mit ihrer Erzählung fort. Ivanhoe konnte sich langsam entspannen.
"Die Sneaker Girls waren eine klassische Teen-Pop-Band mit regionalem Bezug." fuhr eines der Mädchen fort.
"Wir waren sehr sportlich damals und trugen vor allem Turnzeug. Unserer jugendlichen Dynamik kam das entgegen."
"Außerdem konnten wir uns damit bei Live-Auftritten besser bewegen."
"Nach Monaten harten Trainings, und geübt hatten wir ja schon Jahre vorher, stellten sich die ersten Erfolge ein."
"Wir bekamen Live-Auftritte in Bierzelten, kleinen Clubs und Diskotheken mit Namen wie Flip, Flair oder Ufo."
"Den entscheidenden Schritt machten wir, als wir irgendwann unseren ersten Auftritt in einer lokalen Spielshow bekamen. Das war der Einstieg in die Hitparade."
"Die Leute mochten nicht nur unsere Songs, sondern auch unsere Präsentationen."
"Bald landeten wir einige mittlere Top-Hits zum Mitsingen, erste Jugendliche ahmten unsere Tanzschritte nach, bei unseren Auftritten begann man Autogramme zu verlangen."
"Drei Singles später ließ der Erfolg wieder nach. Unserem Songwriter, einem gemeinsamen Freund aus der Schule, fiel nichts Neues mehr ein, und die Turnschuhmasche zog auch nicht mehr richtig."
"Die Jugendlichen standen inzwischen alle auf Gothic, schwarze Haare und no sports."
"So ändert sich der Publikumsgeschmack."
"Was aber kein Grund ist, das Handtuch zu werfen. Wir zogen uns für ein paar Monate in ein Haus von Freunden am Meer zurück. Biggi erwartete inzwischen ein Kind von unserem Songwriter."
"Wir wollten weitermachen. Wir waren ja noch am Lernen, und begannen unser Geschäft gerade erst zu verstehen."
"In dieser Zeit der Einkehr am Meeresstrand machten wir uns viele Gedanken über Gott, die Welt und unsere weitere berufliche Laufbahn. Wir verfolgten aufmerksam Biggis Schwangerschaft und führten Gespräche ohne Ende."
"Irgendwann dann waren wir uns sicher, einen neuen Weg gefunden zu haben und gingen zurück nach Hause."
"Bald stürmten wir wieder die Hitparaden, druckvoller als jemals zuvor."
"Wir waren jetzt die "Glamour Girls"."
"Knöchellange Abendgarderobe, riesengroße 1979'er Sonnenbrillen, todschicke Stepptanzschuhe und ausgefallen spagatartige Tanzschritte, das waren unsere neuen Markenzeichen."
"Biggi und Konrad, unser Songwriter, hatten inzwischen geheiratet. Die Ehe hatte Konrads Kompositionsgabe wieder auf Touren gebracht. Und unser Look traf den Nerv der Zeit."
"Wir landeten Hit auf Hit, auch international, und die Glamour Girls entwickelten sich zunehmend zu einem planetaren Phänomen. Auftritt folgte auf Auftritt, Videodreh auf Videodreh, Pressekonferenz auf Pressekonferenz."
"Erfolg und Popularität steigerten sich immer weiter."
"Nachdem Biggi ihr Kind, einen Jungen namens Schwibolint abgestillt hatte, stieß sie wieder zur Truppe."
"Es schien, als hätten unsere Fans nur darauf gewartet. Mit Biggi erlebte unsere Beliebtheit einen neuen Höhepunkt."
"Mit Biggi zusammen erledigten wir noch drei fantastisch gute Open-Air-Auftritte, dann zogen wir uns zu Arbeiten an unserem neuen Album wieder ans Meer zurück."
"Obwohl wir von den Strapazen der vorangegangenen Zeit völlig ausgepowert waren, ließen wir trotzdem nicht locker. Wir spürten, dass wir auf einer Welle des persönlichen Fortschritts schwammen. Und die Arbeit ging verblüffend gut voran!"
"Neujahr war das neue Album fertig, und im Frühjahr kam es in den Handel."
"Der Erfolg desselbigen war unglaublich. Unsere Musik hatte eine echte Vorwärtsentwicklung erfahren, wir protzten jetzt weniger mit unseren Sopranen, unser Tanz war weniger auf Effekte und Spielereien aus als früher, war weniger aufwendig, wir suchten jetzt nach einer gewissen grundsätzlichen Richtigkeit. Unsere Garderobe war von zeitloser Eleganz, Schönheit und Praxistauglichkeit."
"Schon die ersten drei Singles nahmen die Charts in rasendem Tempo."
"Am 17. Mai kam die vierte Single in den Handel. Sie sollte den Erfolg der Glamour Girls in galaktische Dimensionen heben."
"Dass der Song, eine Dance-Version von "Yes Sir, I can boogie", auf unserem Planeten Nr. 1 wurde, war inzwischen ja fast selbstverständlich."
"Doch auch die Galaxis war mittlerweile auf uns aufmerksam geworden. Schon längere Zeit handelte sie uns als Geheimtip."
"Jetzt war es soweit. Die Glamour Girls landeten einen Nr. 1-Hit in den Galaktik-Charts."
"Überall in der Galaxis tanzte man Boogie. Es folgten Auftritte in so gut wie allen wichtigen galaxisweiten Veranstaltungen."
"Die Phase dieses stern- und planetenübergreifenden Mega-Erfolges dauerte etwa ein Jahr."
"Wir genossen diese Zeit, ohne Frage, aber langsam stiegen Zweifel in uns hoch. Wollten wir auf diese hundertprozentig auf hundertprozentige und beliebig austauschbare Popularität ausgerichtete Weise fortfahren?"
"Die Glamour Girls waren eine Pose, und jede Pose besitzt nur begrenzte Haltbarkeit."
"Noch mehr für diejenigen, die sie vorführen."
"Plötzlich wollte man uns politisch einspannen. Das lehnten wir alles ab."
"Man kann als Künstler die Finger in Wunden legen, aber nicht mit schmutzigen Händen."
"Du kannst dir inzwischen wahrscheinlich denken, was wir am Ende machten, Ivanhoe. "
"Wir zogen uns wieder ans Meer zurück, und begannen von null auf nachzudenken."
"Wir waren nämlich zu folgendem Schluss gekommen, Ivanhoe. Die Glamour Girls-Pose war ausgereizt und überholt, wir konnten uns nicht mehr identifizieren damit."
"Wir hatten vom Pokal des Erfolges gekostet, wir wussten nun wie er schmeckt."
"Heiß und kalt..."
"Schal und scharf..."
"Bitter und süß..."
"Und mit der Zeit ziemlich sauer."
"Kurz, wir wussten nun, Erfolg war ein irdisch Ding, und, wie das meiste Irdische, im Speziellen nicht unbedingt notwendig. Wir hatten genug vom Erfolg."
"Wir liebten unseren Beruf, aber wir waren nicht mehr fähig und bereit, um besserer Erreichbarkeit Willen unsere Kunst irgendwelchen ihr fremden Gesetzen total zu unterwerfen."
"Wir wollten immer noch ankommen, aber nicht zum Preis von Werten, die wir nicht vertreten konnten."
"Wir arbeiteten weiter hart, verfeinerten unsere Fertigkeiten, und weiteten in gleichmäßigem Tempo unsere Horizonte."
"Am Ende verließen wir das Meer wieder..."
"Und?"
"Wir verließen das Meer als Band ohne Bandnamen. Die Glamour Girls gab es nicht mehr."
"Wir entschlossen uns, fortan als gewöhnlicher Harem nach unseren Maßstäben und unter angemessener Bezahlung nach Tarif zu wirken."
"Den größten Teil unseres Vermögens spendeten wir an die Galaktik-Hunger-Hilfe. Anonym!"
"Masse und Industrie suchten sich schnell andere Idole."
"So waren wir wieder unbekannt. Aufgrund der hohen Qualität unserer Bewerbungen erreichten uns allerdings alsbald Angebote aus den besten Palästen unseres Planeten."
"Wir fanden schließlich Anstellung im Sultanat Rabenhorst."
"Rabenhorst ist klasse. Das können wir dir sagen."
"Absolut kunstsinnig. Er lässt uns die größten Freiheiten."
"Ihm gehört die größte Sammlung weiblicher Nasen im Sonnensystem."
"Charlotte von Stein, die Droste, Annette Kolb, Steffi Graf, er hat sie alle."
Bei Nasen wurde Ivanhoe plötzlich hellhörig. Nicht zum ersten Mal hatte er mit solchen Absonderlichkeiten zu tun.
"Was!" rief er. "Ihr meint, er ist so was wie ein Kannibale?!"
"Aber nein! Er sammelt nur Gipsabdrücke und lässt sie nachmodellieren."
"Von den besten Bildhauern."
"Er hat sogar eine von Küblböck."
"14 Monate arbeiten wir inzwischen für Rabenhorst,-"
"Und lernten Tag für Tag was Neues hinzu."
"Du kannst dir gar nicht vorstellen, was man im kleinen Rahmen auf die Beine stellen kann, selbst wenn man von der galaktischen Bühne kommt."
"Wenn ich unsere kleine Show von heute mit dem Monsterauftritt der Glamour Girls auf Groombridge 1618 vergleiche, dann krieg ich die reinsten Lachanfälle, aber nicht wegen der heutigen Show!"
"Das ist wie großes Orchester gegen Kammerensemble."
"Okay. Die Punkversion von Beethovens Neunter war ein Witz."
"Aber nur weil es verschiedene Arten von Lautstärke gibt. Und Orchester-Lautstärke ist eben keine Verstärker-Lautstärke."
"Und natürlich kriegt man bei einer Punk-Besetzung irgendwann Probleme mit dem Arrangement."
"Punk und 'arranger', ein Begriff, der was mit Ordnung zu tun hat, widersprechen sich ja total."
"Aber manchmal frag ich mich, ob man die Neunte nicht überhaupt in Frage stellen sollte."
"Und manchmal hat sie ja auch tatsächlich was von Größe um der Größe willen."
"Schiller hätte sich ja totgelacht drüber."
"Aber um zurück zur Sache zu kommen: Wir halten Pathos für jede Art von Kunst essentiell notwendig. Aber das hat absolut nichts mit quantitativ zählbarer Größe, Masse oder Gewaltigkeit zu tun."
"Genau."
"Wir sind wirklich glücklich im Moment."
"Bis dann gestern diese Marionaner kamen."
"Sie haben uns überwältigt..."
"Gekidnappt haben sie uns, mitsamt unserem Raumschiff!"
"Wir waren gerade unterwegs zu ein paar kleineren Gigs in Millionenstädten auf der Erde."
"Sultan Rabenhorst lässt uns alle Freiheiten, die wir brauchen. So können wir an unserer bescheidenen Karriere immer weiterarbeiten."
"Ja, konnten!"
Die Stimmung hatte entgegen dem fröhlichen Wortlaut nun bereits einige Zeit auf der Kippe gestanden, doch jetzt schien das Fass über zu laufen. Plötzlich fing der gesamte Harem zu schluchzen an, zuerst Biggi, dann die andern im Chor.
"Schwibolint weiß überhaupt nicht, wo ich jetzt bin!"
"Und mein Freund ist auf Montage in Mauretanien!"
"Mir tut Rabenhorst so leid!"
"Und meine Eltern liegen beide mit Pneumonien im Bett!"
So ging das weiter, und der Tränenfluss der Frauen schien kein Ende mehr zu nehmen. Ivanhoe kam mittlerweile überhaupt nicht mehr mit.
"Ich versteh das nicht." rief er. "He Glenda, hör doch mal zu, wieso hat euch denn keiner da rausgeholt, was war denn mit der Polizei auf eurem Planeten, und was ist mit eurem Rabenhorstsultan?"
"Scherzkeks, die Marionaner sind das älteste Volk im Universum. Die haben Technologie ohne Ende! Wer soll die denn aufhalten?"
"Polente kannste doch vergessen. Die kuschen doch schon vor jedem Jupiter-Elefanten!"
"Und Rabenhorst ist hochverschuldet. Seit der letzten Photovoltaik-Revolution bleibt der immer mehr auf seinem Uran sitzen."
"Aber von seenem mega-uffwendigen Lebensstil will der ooch nich runter, der alte Schowi."
"Lieber hält der die Schnauze, bevor Gringos Leute nervös werden."
"Wer ist denn Gringo?" rief Ivanhoe konfus.
"Ach, Gringo!" sagten die Glamour Girls nur und winkten ab.
In dieser schnodderigen Art moserten die Frauen noch eine Weile weiter, und überforderten Ivanhoe völlig damit. Dann beruhigten sie sich langsam wieder, und verfielen schließlich gänzlich in nachsinnendes Schweigen.