Montag, 3. Oktober 2011

Der weiße Bär


 

Düsteres Opus magnum der 60 Arbeiten aus "Das Ende der Menschheit - Ein Märchenbuch"


 

Der weiße Bär



Es ist ein beinah perfekter, sonniger Wintermorgen, als Sowieso, ein Medienunternehmer fortgeschrittenen Alters, und seine Geliebte, das Top-Model Mary Margritte, von einem luxuriösen Privatflughafen am Ufer des Michigan-Sees zu einem Fotoshooting in die Wälder Nordkanadas aufbrechen.
Eben sind die beiden Sowiesos gewaltiger Luxuslimousine entstiegen, fröhlich winken sie nun noch, während sie langsam die Gangway zu Sowiesos Privatjet emporklettern, irgendwelchen Freunden am Boden zu.
Die Einstiegsluke des Flugzeugs steht bereits offen, und beschwingt und über einen Witz lachend betreten Sowieso und Mary Margritte den Innenraum. Drei weitere Besatzungsmitglieder harren dort bereits ihrer Ankunft, und drehen sich nun nach den beiden um. Das Trio besteht aus Rock Radebeul, Sowiesos ziemlich lichtscheu und undurchsichtig wirkendem Hausfotografen, dem indianischen Media-Assistenten Joey Wang, sowie, vorne am Steuerrad, dem Piloten des Flugzeugs.
Respektvoll gibt man einander die Hand. Dann schnallen Sowieso und Mary Margritte sich, unterstützt vom beflissenen Joey Wang, in ihren riesigen Ledersitzen fest. Endlich, als auch Joey Wang seinen Sitzplatz wieder eingenommen hat, drückt der Pilot den Startknopf.
Gemächlich und fast wie in Zeitlupe setzt das Fluggerät sich in Bewegung, rasch beschleunigt es und erhebt sich mit ohrenbetäubendem Brausen und in einer überraschend plötzlichen Bewegung vom Boden.
Der folgende Flug verläuft entspannt und ereignislos, bis den Piloten unerwartet ein mysteriöses Leiden überfällt. Seine Haut fängt an sich grün zu verfärben, mit beängstigender Schnelligkeit verliert der Mann in der Folge die Fähigkeit sich zu artikulieren. Unter Röcheln und anscheinend größten inneren Schmerzen verstirbt er im Verlauf von wenigen Minuten. Verzweifelt versuchen die verbliebenen Insassen, die Kontrolle über die Flugbahn des Jets an sich zu reißen, doch vergeblich bleiben ihre Bemühungen, und führerlos stürzen sie irgendwo über der schneebedeckten Wildnis Nordkanadas ab.
Benommen und wie unter Schock stehend entsteigen Sowieso, Mary Margritte, Rock Radebeul und Joey Wang dem brennenden Wrack, und Seit an Seit besehen sie sich in einer nüchternen, distanzierten Einstellung die Aufschlagstelle.
Auf den ersten Blick wird klar, dass dieser Vogel kein weiteres Mal vom Boden abheben wird. Nicht viel anders sieht es mit den kläglich einige Funken versprühenden Resten des Funkgeräts aus. Da die vier Überlebenden aber auch sonst über keinerlei Kommunikations- oder Fortbewegungsmittel verfügen, bleibt ihnen nur eine Wahl. Sie müssen sich irgendwie zu Fuß den Weg zurück in die zivilisierte Welt bahnen.
Rasch packen sie alles zusammen, was sie aus dem Flugzeug noch retten können. Rock Radebeul, der Photograph, ist dabei trotz einer Verstauchung in der rechten Schulter, die er sich bei dem Absturz zugezogen hat, immer noch Künstler genug, die ganze Situation mit seiner Hasselblad-Profikamera festhalten zu wollen. Schon im Cockpit des brennenden Wracks hat er angefangen, die ersten intensiven Fotos zu schießen, und er wird diese Tätigkeit auch bei allen noch folgenden Abenteuern, selbst unter mörderischsten äußeren Bedingungen, fortsetzen, bis ihn schließlich eine vorletzte dramatische Zuspitzung der Lage endgültig davon abbringen wird. Vorerst aber machen die Freunde sich noch voller Zuversicht auf den Weg.
Doch all ihre Hoffnungen auf ein schnelles Ende dieses Abenteuers werden nicht erfüllt. Nur wenige Stunden später schlagen sie sich bereits frierend, hungrig und desorientiert durch das verholzte Ufer eines halbvertrockneten Flusslaufs. Nach einer Weile beginnt es dann auch noch heftig zu schneien.
In dieser zunehmend unwirtlichen Lage setzen Sowieso, Mary Margritte und Rock Radebeul ihre Hoffnungen immer mehr auf Joey Wang mit seinen wilden und naturverbundenen Vorfahren. Doch viel kann der dicke Joey Wang, der sonst hauptsächlich für die Verpflegung und die gute Stimmung in der Truppe zuständig ist, seinen Freunden nicht helfen. Im Grunde ist er ja auch nichts anderes als ein normaler Großstadtbewohner irgendwo aus Chicago. Seine Dreadlocks, sein Lifestyle und die neuesten Entwicklungen in der Chicagoer Techno- und Industrialszene, das sind die Dinge, die ihn wirklich interessieren. Mehr jedenfalls als seine Vorfahren, die er, so wie die anderen, fast nur aus der Schule und aus schlechten Filmen kennt.
Immerhin aber besitzt Joey Wang eine gewisse Improvisationsgabe, durch die er zusammen mit dem trotz seines fortgeschrittenen Alters ideenreichen und auffassungsschnellen Sowieso innerhalb kurzer Zeit lernt, wie man ohne Feuerzeug ein Feuer in Gang bringt und mit Hilfe einer selbstgebastelten Speerschleuder Rentieren nachstellt.
Kurz vor dem Dunkelwerden gelingt es den beiden schließlich, ein hinkendes Rentier mit ihrer Speerschleuder zu erlegen.
Sie braten das Fleisch über einem Lagerfeuer, und so endet der Tag doch noch versöhnlich bei einer warmen Mahlzeit in treuer Gemeinschaft. Nach dem Essen begeben die vier sich zu Bett und verbringen die sternenklare Nacht störungsfrei in ihren warmen und molligen Schlafsäcken.
Früh am nächsten Morgen liegt die Feuerstelle schon wieder verlassen, und man sieht die Freunde durch meterhohen Schnee einen Berggipfel hochstapfen.
Gegen Mittag befinden sie sich bereits auf der anderen Seite, und halb auf dem Weg zurück ins Tal.
Dann überkommt Joey Wang plötzlich ein Gefühl, als ob ihnen jemand folgte. Immer wieder vernimmt er irgendwo hinter sich das Knacken von Ästen und Bäumen. Jedes Mal aber, wenn die Freunde sich umdrehen, können sie nichts anderes erkennen als das, was sie vor sich auch gerade gesehen haben, nämlich undurchdringliche Wildnis und Wüstenei.
Joey Wangs Ahnungen verbessern die Stimmung in der Gruppe, die seit dem Morgen ohnehin bereits erheblich gelitten hat, nicht gerade. Die möglicherweise völlig sinnlose Gipfelüberquerung hat die vier Freunde bis an ihre körperlichen Grenzen entkräftet, das Rentier von gestern hatte widerlich nach Kot und Verwesung geschmeckt, den meisten ist auch jetzt noch schlecht davon, und als wäre das nicht schon genug, gelingt es dem muskulösen, gutaussehenden und vollbarttragenden Rock Radebeul auch hier in der Wildnis nicht, von Mary Margritte, mit der er ein heimliches Verhältnis unterhält, die Finger zu lassen. Sowieso, der seit dem Morgen direkt hinter den beiden marschiert, bekommt deren Spielchen natürlich bis zur kleinsten Geste mit, und steht kurz davor zu explodieren. 
Auch Mary Margritte wird die Sache mit Rock langsam unangenehm, denn ein bisschen mag sie den nicht mehr ganz jungen, weißhaarigen und Anthony Hopkins ähnelnden Sowieso ja auch. Überhaupt wäre es der wunderschönen vollbrüstigen Frau, deren engelsholdes Antlitz rote Locken umwallen, am liebsten, wenn die beiden Männer einfach nur Freunde wären. Doch das ist ganz offensichtlich unmöglich, und mit jedem Schritt werden die Spannungen zwischen Rock Radebeul und Sowieso offenbarer.
Dann entdeckt Mary Margritte hinter einem Busch, hinter dem sie zwei putzige Eichhörnchen hat verschwinden sehen, plötzlich die halbverweste Leiche eines Naturforschers, und geht schreiend zu Boden. Sofort fassen Sowieso und Rock Radebeul sie an Armen und Beinen, schleppen sie zum nächsten größeren Felsbrocken, wo sie die Verzweifelte anlehnen. Joey Wang gibt ihr ein wenig Wasser aus seiner Trinkflasche. Gierig saugt sie an dem Behältnis und trinkt es bis auf den letzten Tropfen leer. Nicht lange, und die Flüssigkeit tut ihre beruhigende Wirkung. Lächelnd erklärt Mary Margritte sich wieder einsatzbereit, und die vier setzen ihren Weg fort.
Joey Wang mit seinem intuitiven Gespür für den einfachsten und gefahrlosesten Weg übernimmt nun immer mehr die Führung der Gruppe und leitet seine Freunde entschlossen durch die sich kaum verändernde, unwirtliche, meist felsige und bewaldete Gegend. Von Zeit zu Zeit taucht links oder rechts von ihnen der Fluss auf, an dessen Verlauf sie sich orientieren, dann verschwindet der Ausblick auf das Gewässer wieder hinter niederem Holz und dürrem Gestrüpp. Das einzige zivilisierte Zeichen, das sie an diesem Tag erblicken, ist ein Flugzeug, das unendlich fern am blauleuchtenden arktischen Himmel einen Kondensstreifen zieht und zum Erschrecken aller plötzlich abstürzt und lautlos am Horizont hinter Baumwipfeln entschwindet.
Als es schon langsam Abend wird, erhärtet sich Joey Wangs nachmittäglicher Verdacht immer mehr. Auch die anderen hören jetzt unheimliche Geräusche im Unterholz. Wenn sie sich dann aber beunruhigt umsehen, ist nach wie vor außer Bäumen, Gestrüpp und wilder Natur nichts zu erkennen.
Ein wenig später sitzen die vier um ein karges, rauchendes Lagerfeuer versammelt und kauen an den Resten eines zweiten halb durchgebratenen Rentiers. Sowieso und Rock Radebeul liegen sich währenddessen zum x-ten Mal an diesem Tag in den Haaren.
"Ich hab's ausgerechnet, Mann. Zwei Drittel meiner Spots hast du mir versaut letztes Jahr mit deinen saublöden Einfällen." meckert Sowieso gerade.
"So ein Riesenscheiß! Das einzig gute an deinen verwixten Spots SIND doch meine Ideen!" kontert Rock Radebeul seinen Chef.
"Mit jeder Assistentin ins Bett hüpfen, das ist doch das einzige, was du kannst!" giftet Sowieso weiter.
"Könnt ihr euch denn nicht EINMAL vertragen!" schreit Mary Margritte dazwischen.
Da plötzlich steht Joey Wang, der zwischen Rock und Sowieso sitzt, und die ganze Szene bisher eher unbeteiligt verfolgt hat, mit entgeistertem Gesichtsausdruck auf.
"Schsch!" macht er auf mystische Weise und hält sich den Zeigefinger vor den Mund. Die anderen werden auf ihn aufmerksam und verstummen erschrocken. Joey Wang schließt die Augen.
"Könnt ihr das hören?" fragt er mit tiefer, kehliger Schamanenstimme.
Die anderen sehen sich an.
"Was denn hören?" fragt Sowieso achselzuckend.
"Ein Bär. Ganz in unserer Nähe." flüstert Joey Wang.
Irgendwo knarzen ein paar Bäume. Leiser Wind rauscht im Geäst. Woanders rutscht ein Kieselstein ab. Da reißt Joey Wang wie vom Schlag getroffen die Augen auf. Sein Blick ist starr und entschlossen.
"Schnell!" befiehlt er. "Jeder schnappt sich einen Ast oder sowas!"
Die Freunde reagieren blitzschnell und laufen in verschiedene Richtungen davon.
Schon stehen sie wieder auf ihren Plätzen, mit Stöcken und Ästen den Angriff eines blutrünstigen Monsters erwartend.
Im entfernten Halbdunkel huscht ein heller Schatten vorüber. Einen kurzen magischen Moment später ist er wieder verschwunden.
Ruhelos spähen Sowieso, Rock Radebeul und Mary Margritte in die Nacht hinaus.
"Was war das?" fragt Mary Margritte, einen krummen Birkenprügel, den sie kaum halten kann, in der Hand.
"Irgendwas Weißes." antwortet Rock.
"Wie ein Bär, ein Büffel." spekuliert Sowieso.
"D-das war der weiße Bär." stottert Joey Wang, dem der Mund vor Erregung immer noch offen steht.
"Na, sag ich doch." meint Rock.
"Nein, das war Watschi-Roo." murmelt Joey Wang.
"Watschi-wer?" fragt Sowieso.
"Watschi-Roo, der mythische Bär meiner Vorfahren." erklärt Joey Wang, und sein Blick wandert hoch zu den Sternen.
Sowieso, Rock Radebeul und Mary Margritte sehen sich fragend an.
"In meinem Clan gab's früher mal die Legende von Watschi-Roo." erklärt Joey Wang weiter. "Ich muss sie das letzte Mal mit vier oder fünf von meiner Oma gehört haben. Seitdem hab ich kein einziges Mal mehr dran gedacht. Ich hab nicht mal gewußt, dass ich mich überhaupt noch dran erinner, Mann! Aber jetzt hab ich sie so deutlich im Kopf, als hätt meine Oma sie mir vor 'ner halben Stunde erzählt..."
Leise säuselt der Nachtwind, gespannt bilden die Köpfe von Sowieso, Mary Margritte und Rock Radebeul einen Halbkreis. Joey Wang auf der anderen Seite des Halbkreises beginnt, nach einigen Momenten der Konzentration, zu erzählen:

"Früher, vor unendlich langer Zeit oder so, hat mein Stamm noch im Land zwischen dem weißen Berg und dem blauen Fluss gelebt.
Wie die damals gelebt haben, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. So hat zum Beispiel noch jedes Stammesmitglied seinen eigenen Totem gehabt. Und die Totems hatten die höchste Bedeutung überhaupt. Die waren für jeden so was wie seelische Chefs, und wenn einem sein Totem im Traum oder sonst bei Gelegenheit mal was gesagt hatte, dann mussten die das auch tun. So stand es im Stammesgesetz, und gegen das Stammesgesetz kam sowieso keiner an.
Na, auf jeden Fall hatte mein Stamm zu der Zeit mal einen Häuptling gehabt, der Mecko hieß, und Mecko hatte eine Frau, die Watschi hieß, und Mecko und Watschi hatten einen Sohn, der Wonky hieß, und Wonkies Totem war der Polarbär oder Große Eisbar, wie er von manchen Leuten, die's wissen müssen, genannt wird.
Irgendwann, als Wonky fünfzehn war oder so, ging er im Winter mal am blauen Fluß spazieren. Der Winter war unglaublich kalt in dem Jahr, und in allen Dörfern wurde schon erzählt, dass die Eisbären auf der Suche nach Futter immer weiter in die von den Menschen besiedelten Gebiete runterkämen, und so kam es, dass Wonky, nachdem er eine Weile in der Wildnis herummarschiert war, plötzlich einem riesigen Eisbären gegenüberstand.
Ich persönlich glaub ja nicht, dass der Eisbär gewusst hat, dass er gerade der Totem von Wonky war. Ich denk mal, der hatte einfach Hunger, und Wonky hätte sich von ihm, weil der Eisbär nun mal sein Totem war, widerstandslos fressen lassen müssen, so stand es ja im Stammesgesetz. Und jeder andere im Stamm hätte das wahrscheinlich ja auch gemacht. Aber irgendwie war Wonky anders als die andern. So viel anders anscheinend, dass er sich am Ende sogar auf einen Zweikampf mit seinem eigenen Totem einließ. Tagelang ging der Kampf hin und her, bis Wonky schließlich gewonnen hatte.
Als Wonky sah, dass der Bär tot war, lief er ins Dorf zurück und erzählte stolz, was ihm gerade passiert war. Doch nachdem seine Leute die ganze Geschichte gehört hatten, brachen sie alle nicht in Jubel, sondern stattdessen in Tränen und wildes Geschrei aus. Denn obwohl das eigentlich keiner wollte, hatten sie jetzt nur noch eine Wahl. Wonky musste verflucht werden, und zwar noch bevor die Totems sauer wurden. So trafen Wonky noch am selben Tag Fluch und Bann seines Stammes.
Der Fluch verwandelte Wonky in einen weißen Bären, und von Stund an trieb Meckos und Watschis Sohn sich als Watschi-Roo, als der mächtigste weiße Bär, den die Welt je gesehen hatte, in den Wäldern Kanadas rum, einzig um Menschen zu töten, so wie es richtig war, bis dass er irgendwann mal selber getötet wurde."

Joey Wang atmet tief und abwartend durch. Die Erzählung ist aus.
Seine Zuhörer starren nachdenklich ins schwach dahinknisternde Feuer.
Als Erster hebt Sowieso wieder den Kopf.
"Du meinst also, dass dieser Bär uns verfolgen wird, bis er uns alle fertig gemacht hat. Seh ich das richtig so, ja?“
Als Joey Wang die Stimme seines Oberchefs vernimmt, zuckt er zusammen und ist sich auf einmal überhaupt nicht mehr sicher, ob er sich mit der Geschichte nicht doch zu weit rausgelehnt hat.
"Na ja, also hundertprozentig weiß ich das ja auch nicht, Chef." antwortet er schnell. "Bei so Geschichten ist doch nie alles ernst gemeint. Ich mein ja bloß. Wenn Watschi-Roo tatsächlich bloß Menschen fressen kann, was soll er dann anderes machen? In Kanada laufen die Leute ja nicht gerade in Rudeln rum, und von irgendwas muss ein Bär ja auch leben."
"Mein Gott, wir werden sterben." flüstert Rock Radebeul.
Mary Margritte sieht Radebeul erschrocken an. Staunend und besorgt lupfen sich ihre Augenbrauen. Nur zu gern möchte sie das Knie des gutaussehenden, männlichen Bartträgers berühren, lässt es mit einem Seitenblick auf Sowieso aber bleiben.
Sowieso freilich ist schon mit anderen Dingen beschäftigt.
"Einen Scheißdreck werden wir!" meint er gereizt und steht auf. "Wenn dieser Watschi-Roo uns haben will, dann soll er verdammt nochmal kommen! Der wird einen verdammt heißen Empfang kriegen! Darauf könnt ihr alle eure Ärsche wetten, und wenn wir uns alle anpissen dabei!"
Mary Margritte schüttelt ihr Haupt.
"Was meinst du, Sowieso?" fragt sie verwirrt.
"Na, wir werden uns Waffen bauen!" antwortet der mit überzeugtem Brustton. "Speere, Fallen, und was uns sonst noch so einfällt. Holz liegt doch hier in rauhen Mengen rum, und Joey Wang weiß, wie man die Dinger baut!"
Rock Radebeul und Mary Margritte heften ihre Blicke auf Joey Wang.
"Na ja, vielleicht fallen mir ja ein paar Tricks ein." lacht Joey Wang verlegen, und ein Funken Weisheit scheint plötzlich aufzublitzen in seinen verkniffenen, ansonsten nur nach Beliebtheit heischenden Äuglein.
"Na also!" schreit Sowieso und reißt seine Fäuste hoch. "Packen wir's an, verdammte Scheiße nochmal!!"
Rock Radebeul, Mary Margritte und Joey Wang lassen sich mitreißen. Begeistert springen sie hoch und stimmen mit einem lauten "Jaaa!" in Sowiesos Gegröle mit ein.
Allerdings herrscht im Moment immer noch tiefe Nacht, und nachdem im Dunkeln ein zweiter Angriff von Watschi-Roo nicht auszuschließen ist, bringen die Freunde die nächsten Stunden erst noch mit wechselnden Wachen zu.
Als am nächsten Morgen die Sonne dann mit Rosenfingern erwacht, sind alle schon hart bei der Arbeit, und das Gestirn scheint ihnen in Einzelaufnahmen ins Gesicht. In effektvoll durcheinandergeschnittenen Szenen knicken die vier mit vereintem Gewicht zwei Kiefern um, spitzt Joey Wang mit einem irgendwie indianisch anmutenden Jagdmesser herumliegende Äste und Holzstücke zu Pflöcken und Speeren zu, und heben sie zusammen mit ihren Händen sowie ein paar Holztrümmern einen monumentalen Graben aus. Das Feuer der Entschlossenheit hat die Gruppe sichtbar zusammengeschweißt und scheint in jedem einzelnen die letzten Kräfte zu mobilisieren.
Später sitzen sie angespannt und erwartungsvoll wieder bei Rentier am Feuer.
"Und was ist, wenn Watschi nicht kommt?" fragt Mary Margritte, während sie an einem Knochen nagt.
"Er wird kommen." erwidert Joey Wang, jetzt wieder absolut sicher und mystisch verklärt. "Er ist schon ganz in der Nähe. Ich spür seine Gegenwart."
Sowieso, Mary Margritte und Rock Radebeul heben überrascht ihre Köpfe und drehen sich schnell in alle Richtungen um.
"Ich seh nichts." meint Sowieso.
Auch Mary Margritte und Rock Radebeul scheinen nichts zu sehen und stimmen Sowieso nickend zu.
Da stutzt Joey Wang plötzlich und zieht seine Augen zu Schlitzen zusammen.
Doch Joey Wang scheint gar nicht zuzuhören. Wie unter Stromstößen beginnt sein Körper plötzlich zu zucken, und seine Augen ziehen sich zu Schlitzen zusammen.
In der verschwommenen Ferne, genau in Joey Wangs Blickrichtung, materialisiert sich langsam ein weißer, sich bewegender Schatten. Mit Urgewalt bricht es aus dem sonst so verklemmten Media-Assistenten heraus.
"Ich kann ihn sehen! Das ist er, Watschi-Roo!" ruft er vollkommen außer sich und schnellt zeigend und deutend von seinem Baumstumpf hoch.
Aus dem Schatten wird mehr und mehr ein riesiger weißer Bär, der tapsig wie ein fünf Wochen alter Bernhardinerwelpe von einem Hügel herab auf die Freunde zugetrabt kommt. Gleichmäßig setzt er Pfote vor Pfote hin, lustig baumelt seine Zunge um das geöffnete Maul herum.
Rasch kommt der Bär näher. Sowieso, Mary Margritte, Rock Radebeul und Joey Wang haben inzwischen gleich einem eingespielten Team, versteckt hinter Büschen und Baumstämmen, ihre Kampfstellungen bezogen.
Endlich erreicht das Untier den Fuß des Hügels. Punktgenau passt Mary Margritte den richtigen Moment ab und zerrt dann fachmännisch an einem Seil, das mit den beiden umgeknickten Kiefern in Verbindung steht. Zischend schnellen die Kiefern, die über ein zweites Seil mit einem Steinhaufen auf der Hügelkuppe verbunden sind, hoch. Oben auf der Hügelkuppe löst sich der Steinhaufen und rollt donnernd zu Tal. Watschi-Roo, der gar nicht merkt, was hinter seinem Rücken passiert, hat keine Chance. Die Lawine begräbt ihn meterhoch unter sich.
Wilde Hoffnung spiegelt sich auf den Gesichtern der Freunde. Doch die Steinmassen fangen schon wieder an sich zu bewegen, und zwischen einigen davonpolternden Felsbrocken gräbt sich Watschi-Roos Kopf lustig und scheinbar unverletzt in Freie hinaus.
"Mein Gott, es lebt! Was sollen wir denn nur tun?" schreit Mary Margritte mit verzagender Stimme.
Rock Radebeul fängt vor Angst an zu flennen, Joey Wang versucht panisch, sich unter einem Busch zu verkriechen.
"Reißt euch jetzt bloß zusammen!" feuert Sowieso seine Leute an. "Auf meinen Befehl hin schleudern alle die Speere!"
Noch einmal schöpfen Joey Wang, Rock Radebeul und Mary Margritte Hoffnung und fassen furchtlos nach ihren Speeren.
Watschi-Roo trabt unterdessen, ein bißchen humpelnd, aber immer noch mit fröhlich herausbaumelnder Zunge, weiter heran.
"Jetzt!" schreit Sowieso, und ein Hagel von vier Speeren prasselt todbringend auf den Bären nieder. Drei Speere bohren sich tief in Watschi-Roos Rumpf, der vierte bleibt wackelnd im Schädel des Monsters stecken wie der zu groß geratene Spitz eines tollpatschigen Einhorns.
Watschi-Roo bleibt stehen und sieht die Speerwerfer staunend an. Dann setzt er sich abermals, so als wäre nichts geschehen, in Bewegung und trabt, noch ein wenig angestrengter und nicht mehr ganz so geschmeidig vielleicht, aber immer noch lachend und mit baumelnder Zunge heran.
Bald sind es nur noch fünfzehn Meter. Verzweifelt schleudern die Freunde ihre restlichen Speere und Pflöcke dem Monster entgegen, doch auch die schaffen es nicht, Watschi-Roo zu stoppen. Unaufhaltsam und mit beschwingten Schritten kommt er unter dem ängstlichen Geschrei Mary Margrittes, Rock Radebeuls und Joey Wangs näher und näher.
Als er die Fünf Meter-Grenze erreicht, knackt unter seinen Tatzen plötzlich der Boden. Es ist die Stelle, an der die Freunde mit ihren Händen und ein paar einfachen Holztrümmern listenreich die Fallgrube ausgehoben haben.
Der Bär fängt in Zeitlupe an einzubrechen. Doch dann biegen sich ein paar der Äste, welche die Fallgrube bedecken, anstatt zu brechen nur durch, und Watschi-Roo bleibt auf halbem Weg in der Grube stecken. Während der größte Teil seines Körpers nicht mehr zu sehen ist, ragen seine weiß bepelzten Schultern und sein lachender Eisbärenkopf immer noch aus der Grube hervor.
Sowieso, Mary Margritte, Rock Radebeul und Joey Wang erkennen, wie günstig der Augenblick ist, und rennen, mit ihren Knüppeln bewaffnet, auf die Grube zu.
"Hallo Leute!" sagt Watschi-Roo beschwingt, als Rocks Knüppel ihn mit voller Wucht am Hinterkopf trifft und sein Schädel mit einem unheimlichen Schmatzen zerbirst.
Watschi-Roo sinkt vornüber. Wabbeliges, rötlich-graues Gehirn quillt aus dem geöffneten Hinterkopf des Tiers. Schwer atmend, erschöpft und mit glasigem Blick mustert es die vier Menschen um sich herum.
"Ich wollte doch nur ein bißchen Gesellschaft..." bringt es stockend mit einem letzten, rätselnden Schmunzeln hervor.
Damit hat Watschi-Roo sein Leben ausgehaucht, und die vier Freunde fallen sich jubelnd und triumphierend in die Arme.
Doch nur kurz darauf haben sie das Kapitel Watschi-Roo schon abgehakt und beraten nüchtern und im Stil von Wildnisexperten ihr weiteres Vorgehen.
"Okay, wenn wir nicht verrecken wollen, müssen wir so schnell wie möglich aus dieser Wildnis wieder rauskommen." meint Sowieso.
Grimmig und selbstbewusst pflichten Rock Radebeul, Joey Wang und Mary Margritte Sowieso bei und nicken entschlossen.
"Okay, on we go!" befiehlt Sowieso.
Mit geübten Handgriffen und ohne überflüssige Trödelei werden alle notwendigen Sachen zusammengepackt. Im Gleichschritt verlassen die Freunde den Ort, überqueren im Eilmarschtempo zwei Berggipfel, und machen dann bis zum Abend noch einmal gewaltig Tempo.
Im Dunkelwerden erreichen sie ein weitverzweigtes, flach dahinplätscherndes Flußsystem. Joey Wang schleicht sich noch schnell an ein Rentier heran, das sich gerade am klaren Flußwasser letzt und schleudert lautlos seinen Speer. Mit durchbohrtem Brustkorb fällt das Tier um. Sowieso, Mary Margritte und Rock Radebeul haben in der Zwischenzeit ausgepackt und ein gemütliches Lagerfeuer entfacht.
Das gute, nahrhafte Fleisch und die Anstrengungen des Tages lassen die Freunde schnell müde werden. Gähnend wickeln sie sich in ihre Schlafsäcke.
Später, als alles schon schläft, hebt Mary Margritte prüfend ihren Kopf, schlüpft mit einigen unkenntlichen Gepäckstücken aus ihrem Schlafsack, schleicht auf Zehenspitzen an den schlummernden Männern vorüber und verschwindet in der Dunkelheit. Geschickt entledigt sie sich am Flussufer ihres Pullovers, ihres T-Shirts und ihres BH's, und fängt an, sich im knöcheltiefen Wasser Arme, Brüste und Achseln zu waschen. Mit ihrem flauschigen Handtuch trocknet sie sich ab und zieht sich wieder an.    
Lautlos huscht sie zurück, als plötzlich Rock Radebeul hinter einem Busch auftaucht und an sie herantritt.
"Mary Margritte." sagt er, und die Begleitmusik kündigt eine leidenschaftliche Szene an.
Die beiden küssen sich heftig. Dann löst Mary Margritte sich aus seiner Umarmung und läuft ein paar Schritte zurück. Durchdringend wie ein wildes, gehetztes Tier starrt sie Rock Radebeul an, hin- und hergerissen von den widerstrebendsten Gefühlen. Dann übermannt sie die Leidenschaft doch wieder, und von Neuem fallen die beiden sich in die Arme. Sie beginnen, sich auf romantische und an allen relevanten Körperstellen gut sichtbare Art zu lieben.
Doch Rock und Mary Margritte sind nicht allein dabei. In einer Überblendung wird erkennbar, dass Sowieso sie aus der Deckung eines weiteren Busches heraus beobachtet.
Einige Zeit vergeht. Es herrscht wieder Stille am Fluss. Der tiefblaue Nachthimmel leuchtet sternenübersät, das Wasser gurgelt leise und sanft. In der Ferne tönt ein Geräusch wie das Auf- und Ablodern einer riesigen Flamme.
Rock Radebeul, der eben noch Wasser gelassen hat, tritt aus dem Dunkel der Pinkelecke. Nach einigen Schritten trifft er überraschend auf Sowieso, der offenbar auch auf dem Weg zum Pinkeln ist.
"Na?" fragt Rock im Vorbeigehen.
Sowieso blickt seinen Fotografen aufmerksam an, gleichzeitig dreht sein Kopf sich mit dem attraktiv wirkenden, breitschultrigen Bartträger mit.
Rock Radebeul merkt, dass Sowiesos Blick ihm folgt, und bleibt zögernd stehen. Dann scheint ihm schlagartig klar zu werden, was Sowiesos seltsamer Auftritt bedeutet.
Im nächsten Moment springen die beiden einander schon an, umklammern sich wie zwei Sumoringer und wälzen sich raufend am Boden.
Kein vernunftbegabter Mensch würde in dieser Auseinandersetzung auch nur einen Cent auf den vom Alter geschwächten Sowieso verwetten. Rock Radebeul steht im besten Mannesalter, ist voll austrainiert, seine Muskeln sind rund wie Knödel und im Normalfall könnte er mit seinen riesigen Händen wahrscheinlich noch ganz andere Gegner in die Ecke prügeln. Auf der anderen Seite kämpft Sowieso aber mit der schier unendlichen Kraft eines gekränkten Hahnreihs, und so hat Rock gehörig zu tun, nicht schon nach wenigen Sekunden wegen ein paar Knochenbrüchen den Kürzeren zu ziehen.
Schon sitzt Sowieso mit zerzaustem Haar obenauf und hat Rock an der Gurgel.
"Glaubt ihr vielleicht, ich hab nichts gemerkt?" keucht er. "Wie ihr mich schon jahrelang so dreist wie Dingos hintergeht? Wie ihr's Igeln gleich, wie Gams und Geißbock unersättlich treibt?"
Wild starrt Sowieso Rock Radebeul an und scheint auf eine Antwort zu warten. Der nützt die winzige Chance, die sich daraus ergibt, schubst seinen Gegenspieler zur Seite und wirft sich nun seinerseits in Catchermanier auf den aufächzenden Sowieso.
Wieder und wieder wälzen die beiden sich durchs Wasser, über den Kies, über die karge lokale Vegetation hin und her, aber keinem gelingt es nun mehr, die Oberhand zu gewinnen. Irgendwann endlich sind sie gezwungen, entkräftet innezuhalten.
Seite an Seite bleiben sie auf einer malerischen Kiesbank liegen, und ihre völlige Erschöpfung läßt sie ihre Feindschaft vergessen. Rock zieht einen Flachmann aus seiner Anoraktasche und sieht das Behältnis einen Moment lang abschätzend an. Er schraubt den Deckel ab und hält Sowieso die kleine, blecherne Schnapsflasche hin. Der nimmt einen tiefen, gierigen Schluck.
"Mm, der ist gut!" sagt Sowieso, noch vollkommen außer Atem. "Wo ist der her?"
"Du wirst es nicht glauben." antwortet Rock schmunzelnd. "Aus Deutschland, vom Schwarzwaldsee oder so."
"Sag bloß, die Krauts machen jetzt auch schon Whiskey?" fragt Sowieso kichernd.
"Na, wenn ich's dir sage!" antwortet Rock prustend.
Die beiden Männer steigern sich in einen hysterischen Lachanfall.
Als sie sich wieder halbwegs beruhigt haben, gibt Sowieso Rock den Flachmann zurück. Der trinkt die Flasche endgültig leer. Die Stimme des jüngeren Mannes gewinnt daraufhin ein mannhaft-freundschaftliches Moment.
"Ich sag dir was, Sowieso." meint er mit tiefer, wohltönender Stimme. "Wir verschieben die Sache mit Mary Margritte besser, bis wir wieder zurück in Chicago sind. Unsere Lage ist so im Arsch im Moment, wir sollten mit dem, was wir an Reserven noch haben, besser sparsam umgehen, bis wir aus der Scheiße hier wieder rauskommen."
Sowieso ist anzumerken, wie sehr er sich bei der Rauferei übernommen hat. Er keucht und prustet noch immer wie eine alte Dampfmaschine.
"Du hast recht." japst er und setzt ein gezwungenes Grinsen auf.
Mit tiefen und ernsten Blicken nicken die beiden Männer sich nochmal zu. Dann erheben sie sich mühsam.
Mit langsamen, steifbeinigen Schritten erreichen sie den Schlafplatz, wo das Lagerfeuer noch ein wenig in der Dunkelheit glimmt. Links und rechts davon schlafen Joey Wang und Mary Margritte friedlich in ihren Schlafsäcken.
Als am nächsten Morgen die Sonne mit krakeligen Rosenfingern erwacht, liegt das Lager verlassen.
In einiger Entfernung folgt die Gruppe im aufkeimenden Tageslicht dem munter voranplätschernden Flußlauf, der sich hoffnungspendend durch die eisig-romantische Landschaft schlängelt. Joey Wang geht trittsicher voraus.
Später durchsteigen die vier eine schmale, gefährliche Schlucht. Da überrascht sie rumorend ein plötzlicher Steinschlag. Joey Wang, Sowieso und Mary Margritte gelingt es, sich im letzten Moment hinter einen Felsvorsprung zu retten. Rock Radebeul aber, der im Laufen an einer Wurzel hängenbleibt und der Länge nach und in Zeitlupe in einem Rinnsal aus Schmelzwasser landet, wird von den Gesteinsmassen erfasst und mitgeschleift.
Schnell kommt die Lawine wieder zum Stehen. Rock ist etwa fünf Meter unterhalb seiner Freunde im Flusswasser liegen geblieben und schreit wie am Spieß. Sein rechtes Bein ist unter einem Felsbrocken begraben. Joey Wang, Sowieso und Mary Margritte eilen dem Freund hinterher.
Schon auf den ersten Blick, schon an der Art, wie Radebeul ununterbrochen schreit, und mit Kopf und Armen herumfuhrwerkt, wird deutlich, dass an ein Weitergehen so nicht mehr zu denken ist. Mit letzter Kraft rollen sie den Felsbrocken zur Seite. Erschrocken betrachten sie Rock Radebeuls verunstaltetes Bein. Ein Zacken des Unterschenkelknochens spitzt direkt aus seiner von Blut tiefrot gefärbten Hose hervor. Zu dritt heben sie den immer stärker Schreienden hoch und setzen ihn an einem anderen Felsen wieder ab. Nach einer kurzen Beratung beschließen sie, eine Rutsche aus Treibholz zu konstruieren.
Gemeinsam ziehen sie Rock jetzt auf dem unhandlichen Holzgestell weiter. Die Rutsche ist, den Baumöglichkeiten in der Wildnis entsprechend, schwer und unförmig, und scheint fast mehr zu bremsen, als dass sie weiterhilft.
Als es Abend wird, sind die Ziehenden am Ende ihrer Kräfte. Nach einem kurzen Mahl ziehen sie sich in ihre Schlafsäcke zurück.
Später, tief in der Nacht, glimmt die Glut des heruntergebrannten Feuers leise dahin. Sowieso und Mary Margritte schlafen bewegungslos scheinbar in einiger Entfernung. In ihren Schlafsäcken wirken sie wie zwei mumifizierte Überreste des Trekking-Zeitalters. Rock Radebeul auf seiner Rutsche hat Fieber und wirft den Kopf ruhelos hin und her. Joey Wang sitzt am Feuer und raucht nachdenklich seine Pfeife. Von Zeit zu Zeit kratzt er mit einem Stecken in der Glut. Der bestirnte, schwarzblaue Himmel über dem Indianerabkömmling leuchtet in seiner Schönheit beinah erdrückend, in der Ferne tönt wieder leise das Geräusch einer riesigen, auf- und ablodernden Flamme.
Als am nächsten Tag die Morgenröte mit ineinander verkrallten Rosenfingern erwacht, sind die Freunde schon wieder unterwegs. Sowieso, Joey Wang und Mary Margritte ziehen mühsam an der Rutsche, Rock Radebeul auf der Liegefläche hat das Bewusstsein verloren und faselt im Fieberwahn vor sich hin. Sobald die Rutsche auch nur ein wenig irgendwo anstößt, stöhnt er wie ein wimmernder Säugling auf.
Einige Zeit vergeht. Die Gruppe bewegt sich jetzt entlang der Innenseite des Flusslaufs um eine kleine, bewaldete Landschaftserhebung, die Sonne steht hoch am Himmel.
"Wir müssen nochmal auf die Jagd gehen, unser Rentier ist alle." sagt Joey Wang angestrengt, und zerrt zusammen mit Sowieso und Mary Margritte Rock Radebeuls Rutsche mit einem Ruck um einige Zentimeter weiter.
"Du hast recht." pflichtet ihm Sowieso mit erstickender Stimme bei. Mary Margritte nickt kaum sichtbar. Beiden tropft der Schweiß von den nass glänzenden, vor Anstrengung und Überlastung zitternden Stirnen.
Kurz darauf hebt Mary Margritte zufällig ihren Kopf.
"Was ist denn das?" fragt sie plötzlich.
Am Ende der Kurve ist der hintere Teil eines großen Hovercrafts zu erkennen. Sofort lassen die drei von der Rutsche ab und laufen auf das Luftkissenboot zu. Es ist in den Farben der Forstverwaltung gestrichen, die Einstiegsluke des Fahrzeugs ist nach oben geklappt. Ein toter Ranger in seiner roten Uniform und seinem beigen, breitkrempigen Schirmhut liegt mit dem Rücken quer über der Schwelle des Einstiegs. Seine Arme baumeln freihängend in der Luft, die riesig geschwollene, lila verfärbte Zunge des Mannes ragt wie ein Maiskolben aus seinem Mundwinkel.
Schnell haben Joey Wang und Sowieso den Ranger in den hinteren Teil des Cockpits verfrachtet und überprüfen, indem sie ungefähr tausend Knöpfe drücken, hektisch die Funktionstüchtigkeit des Fahrzeugs. Mary Margritte beobachtet sie dabei hoffnungsvoll.
"Das ist das neueste Modell!" ruft Sowieso strahlend.
"Und der Kerosintank ist voll!" antwortet Joey Wang begeistert von der anderen Seite.
Sowieso lässt sich langsam auf dem Fahrersitz nieder.
"Okay," sagt er, "dann wollen wir das Baby mal starten."
Er dreht den Zündschlüssel herum.
Für einige Sekunden scheint das Fahrzeug nicht zu reagieren, dann allmählich fängt irgendein Schwungrad im seinem Innern an sich zu drehen, ein an- und abschwellendes Rollen wird lauter und schneller, bis sich schließlich das ganze Hovercraft mit ohrenbetäubendem Rauschen vom Boden erhebt.
"Wir sind gerettet!" bricht es aus den dreien hervor, und sie fallen sich in die Arme.
Kurz darauf liegt auch Rock Radebeul mit seiner Rutsche im Rückraum des Cockpits. Joey Wang und Mary Margritte sitzen angeschnallt auf der Beifahrerbank, Sowieso thront auf dem Fahrersitz.
"Wohin möchten sie fahren?" fragt der Autopilot.
"Zum nächsten Flughafen, aber zackig, wenn's geht!" erwidert Sowieso überschwenglich und lacht Joey Wang und Mary Margritte von der Seite her an.
Ein sanfter Ruck erschüttert das Cockpit. Das Hovercraft bewegt sich, langsam beschleunigend, vorwärts.
In der nächsten Einstellung huscht das Fahrzeug scheinbar schwerelos in einiger Entfernung über dem Fluss dahin.
Joey Wang und Mary Margritte im Cockpit beobachten die Landschaft. Sowieso hält sich das Mikrofon des Funkgeräts vor den Mund und spricht mit bedeutsamer Stimme:
"Hier spricht Sowieso! Joey Wang, Mary Margritte und Rock Radebeul sind am Leben! Wir sind auf dem Weg nach Hause! Hier spricht Sowieso! Joey Wang, Mary Margritte und Rock Radebeul sind am Leben! Wir sind auf dem Weg nach Hause!"
Das Hovercraft durchquert Schluchten, enge Täler und wilde Naturlandschaften. Dann mündet plötzlich alles in eine grandiose, weitläufige Berglandschaft, direkt vor ihnen breitet sich ein langgezogener, großflächiger See. Das Gewässer ist unbewegt und funkelt in tiefstem Blau. Am weit entfernten anderen Ende des Sees, wo der Fluß gut sichtbar wieder abfließt, spiegelt sich eine Unzahl glänzender, wie Spielzeug wirkender Wasserflugzeuge im Sonnenlicht, dahinter erhebt sich ein mächtiges, einladend wirkendes Holzgebäude. Über der ganzen Szene am Himmel schwebt flirrend und wie in Zeitlupe sich bewegend ein gigantischer Möwenschwarm.
Mit Karacho und gewaltigem Maschinengedröhn rauscht das Luftkissenboot auf den See hinaus. In den Gesichtern der Freunde spiegeln sich Hoffnung und tröstende Gewissheit. Im Hintergrund liegt Rock Radebeul da wie tot.
Eine Hundertschaft von Fotografen und Journalisten steht auf der weitläufigen Terrasse des Wasserflughafens versammelt. Aufgeregt und ihre Hälse reckend erwarten sie das heranrückende Wasserfahrzeug. Hinter ihnen ragt die aus Holz und Glas bestehende Schalterhalle in den Himmel. Hinter den Glaswänden erkennt man zwischen Popcornwägen und hölzernen Tresen noch mehr neugierige und begeisterte Menschen, darunter die Freunde, denen Sowieso und Mary Margritte zu Beginn der Erzählung zugewinkt haben.
Unter dem Jubel der Menschenmenge dockt das Luftkissenboot an der Terrasse an.
Im Cockpit meldet der Autopilot: "Zielpunkt erreicht!"
Die Ausstiegsluke des Hovercrafts öffnet sich. Blinzelnd treten Sowieso, Joey Wang und Mary Margritte ans Tageslicht.
Flughafenangestellte fahren eine Gangway heran. Erschöpft, gefasst und bedeutungsvoll steigen die drei Freunde, begleitet von den triumphalen Tuschen der Filmmusik, die Stufen herab.
Sowieso, Joey Wang und Mary Margritte schütteln den sie umlachenden Journalisten glückstrahlend die Hände, Sowieso und Mary Margritte umarmen ihre Freunde, Rock Radebeul wird im Hintergrund von Sanitätern in einen Rettungshubschrauber verfrachtet.
Da wird die auf dem Pier versammelte Menschenmenge auf ein in der Ferne einsetzendes Rumpeln aufmerksam. Die Journalisten und Fotografen sehen einander verdutzt an. Sowieso, Joey Wang und Mary Margritte drehen sich zu dem See hin, wo sich im Panorama die Rocky Mountains erheben und die Sonne, einem Titan aus dem goldenen Zeitalter gleichend, hoch über ihnen am Himmel schwebt.
Ein zweites Leuchten breitet sich hinter den Bergen aus, das Rumpeln verstärkt sich, vielleicht dem anschwellenden Schrei einer Milliarde zu Tode gequälter Menschen vergleichbar, mit rasender Geschwindigkeit.
Im nächsten Moment schon schwappt eine Welle vernichtenden Feuers über die gesamte Breite des Gebirges. In Zeitlupe rollt die Feuerwalze, begleitet vom Schluss-Chor aus Beethovens Neunter Symphonie in einer Version für zwanzigtausend tibetanische Trompeten und dem Heidelberger Altweiberchor von den Bergen herab, rollt zischend und Dampfwolken vor sich herwälzend über den See, die Menschen und den Flughafen hinweg, bis die Landschaft endlich völlig unter fiebrigem Leuchten und rotgoldenem Donner entschwindet.