Montag, 21. Januar 2013

Educate and inform the whole mass of the people.



Educate and inform the whole mass of the people... They are the only sure reliance for the preservation of our liberty. 
                                                                   Jefferson

Die Grenzen des Wachstums



Es ist merkwürdig, wie diese Arbeit nach den weltwirtschaftlichen Turbulenzen der letzten beiden Jahren anmutet. Das ganze Vehikel ist ja nur ein paar zerquetschte Jahre alt, und doch überkam mich Wiederlesen ein Gefühl intensiver Melancholie, so als stünde ich mit meiner Erinnerung am Rande weit tieferer, unspezifischerer und über meine Person hinausgehender Dinge. Ist halt doch recht unauslotbar tief, der Brunnen der Vergangenheit…



Die Grenzen des Wachstums
(Gedankenspiel eines halbgebildeten Eiferers)
 (Man hört ihm kopfschüttelnd zu)


Sehr geehrte Damen und Herren,
gewähren Sie mir die Bitte, für die Dauer dieses kurzen Gedankenspiels anzunehmen, die Welt sei nur ein System, bewegt durch überschaubare äußere und innere Einflüsse, ohne größere Schwierigkeiten darstellbar mit Hilfe einfacher Theorien und Schemata.
Ich danke Ihnen.
Lassen Sie mich, unter dieser Voraussetzung fortfahrend, die Welt in drei Gefäße von etwa gleicher Höhe und gleichem Volumen einteilen. Jedes dieser Gefäße sei zu Beginn des Versuches zu etwa einem Drittel gefüllt, ihr Standort sei der Deckel einer Schachtel original-belgischer Pralinés. Füllstoff der Behältnisse bilde eine fortab x zu nennende Flüssigkeit. Basis und Grundstoff für diese Flüssigkeit wiederum bilde der Inhalt der oben angeführten Pralinenschachtel.
Nehmen wir, mit ihrem werten Einverständnis, nun an, die Flüssigkeiten x1-3 innerhalb der Gefäße dümpelten über Äonen ohne große Veränderung, nicht immer zufrieden zwar, im Großen und Ganzen aber doch mehr oder weniger gleichmütig vor sich hin.
Nehmen wir weiterhin an, einige der größten Denker innerhalb dieser Lebensräume entwickelten eines Tages die Idee, das Glück aller ihrer Einwohner hänge vom deren persönlichem Wohlstand ab, dieser wiederum aber vom Volumenwachstum der Flüssigkeit x, weshalb dringend und unter allen Umständen auf ein stetiges, allgemeines Volumenwachstum der Flüssigkeiten xp geachtet werden müsse.
Sodann sollen nach einer Weile, begeistert von dieser Idee, die befehlsgebenden Gremien zweier der Gefäße entscheiden, die Volumina ihrer Flüssigkeiten x1 bzw. x2 hätten fortan beständig größer zu werden, andernfalls Glück und Wohlstand ihrer Gefäße ja abnähmen bzw. nicht zulegen könnten.
Den Weisungen der Befehlshaber Folge leistend, mehren genannte Flüssigkeiten also Glück und Wohlstand ihrer Gefäße, indem sie sich in stetigem Tempo auf etwa zwei Drittel ihrer jeweiligen Gefäßhöhen ausdehnen.
Nachdem die Pegel in den beiden Gefäßen wachstumsbedingt aber immer weiter ansteigen, erkennt man dort langsam, daß die Sache mit dem Wohlstand gar nicht so einfach funktioniert. Denn Glück und Wohlstand setzen offensichtlich fortgesetztes Wachstum voraus, mit der Betonung auf fortgesetzt, was in einem begrenzten Gefäß, nicht gleich selbstverständlich, aber mittelfristig, doch irgendwann einmal zu einem Platzproblem führen könnte.
Man beschließt daher nach einigem Überlegen, vorerst einmal kleine Teile seiner eigenen Flüssigkeit xbzw. xan die jeweils beiden anderen Gefäße abzugeben, und im Gegenzug etwa ebensoviel oder ein bisschen weniger vielleicht von der Flüssigkeit x1-3 der beiden anderen Gefäße zurück zu erhalten.
So schwappt für eine ganze Weile Flüssigkeit zwischen den Gefäßen hin und her, was zur Folge hat, daß die Pegel der beiden wachstumsgewillten Gefäße immer höher steigen, während der Pegel des dritten, da die beiden anderen Gefäße nach wie vor allem die eigene Füll-Flüssigkeit im Auge haben, sogar noch ein wenig sinkt.
Auf Dauer ist diese ständige Hin- und Herschwapperei freilich allen drei Gefäßen zu lästig, zu kostenintensiv und überhaupt viel zu langsam, und so fängt man an, in gegenseitigem Einvernehmen, achthundert gewaltige Röhren zu errichten, die alle drei Gefäße miteinander verbinden, und mit deren Hilfe sie von nun an so viel Flüssigkeit untereinander austauschen können, wie sie nur immer wollen.
Diese Strategie hat mehrerlei Auswirkungen. Die Flüssigkeit in den beiden besser gefüllten Gefäßen vermehrt sich jetzt noch rasanter, und bald sind diese Gefäße zu gut neunzig Prozent voll. Bei dieser gewaltigen Menge an Flüssigkeit und dem weiterhin recht bescheidenen Pegel in dem dritten Gefäß läßt sich bei einer gleichzeitig so starken Zirkulation, und die Flüssigkeiten x1-3 zirkulieren wie verrückt mittlerweile, nicht mehr alle Flüssigkeit halten, und so steigt das Ausmaß der Flüssigkeit in dem dritten Gefäß, das inzwischen selbst auf den Geschmack des Volumenwachstums gekommen ist, jetzt schneller als die in den beiden anderen Gefäßen es je getan haben.
Theoretisch müssten in der Folge alle drei Gefäße irgendwann einen Pegel von hundert Prozent erreichen. Zuerst einmal aber wollen alle Gefäße, weil sie in ihren beinah vollen Innenräumen keine Wachstumsmöglichkeiten mehr sehen (und andere Gefäße gibt es ja nicht, höchstens Omas Tschenstochauer Gläsersammlung in der Vitrine, aber die ist hier, von der Pralinenschachtel aus, vorläufig unerreichbar), wenigstens das Potential der beiden anderen Gefäße für sich nützen.
Es existieren verschiedene Thesen darüber, wie das zu bewerkstelligen wäre.
Man könnte beispielsweise die Flüssigkeit in den beiden anderen Gefäßen so lange erhitzen, bis alle Flüssigkeit darin verdampft ist, um dann wieder bei optimaler Ausgangsposition von vorne anzufangen.
Oder man bohrt in die unteren Teile der Gefäßwände große Löcher, woraus die Flüssigkeiten dann ohne Probleme entweichen könnten, und wenn die jeweiligen Gefäße sich geleert haben, verschließt man die Löcher einfach und fängt wieder von vorne an.
Oder man leitet die Flüssigkeit gleich in die inzwischen halbleere Pralinenschachtel zurück.
Vielleicht wäre auch eine Art von idealem Gleichgewicht möglich, ein Gleichgewicht, das sich hält, bei dem alles, was an der einen Stelle vergeht, irgendwoanders wieder dazuwächst, bei dem jeder und jedes gleich, mit gleichem Respekt quasi, mit dem anderen umgeht. Das wäre dann in der Tat eine Art von Idealzustand, ein Paradies, geschaffen bis zum Ende der Zeiten.
Doch zu einer Verwirklichung auch bloß einer all dieser Überlegungen kommt es nicht annähernd. Nachdem die Bewohner aller drei Gefäße nämlich dieselben Eigeninteressen verfolgen, und die Beschränktheit ihres Denkens sie außerstande setzt, die Sprüche ihrer Weisen in Frage zu stellen, überziehen sie sich gegenseitig mit blutigem Krieg, was durch ihre inzwischen wachstumsbedingt hochentwickelte Technologie zur Folge hat, daß alle drei Gefäße unwiderruflich zu Bruch gehen.
Alle Flüssigkeit verliert sich dadurch in die Umgebung, während auf der Pralinenschachtel nichts verbleibt als ein beeindruckender, bei aller Anstrengung zu kaum mehr etwas als zur Betrachtung zu gebrauchender Scherbenhaufen.

Sonntag, 6. Januar 2013

Aus meiner Jugend


Aus meiner Jugend

Ich verbrachte den größten Teil meiner Jugend ab dem achten Lebensjahr im Internat oder, wie man während meiner ersten Jahre noch dazu sagte, in der Erziehungsanstalt Pippinsruh am Bodensee.
Im großen und ganzen glaube ich, sagen zu können, dass dieser Teil meiner Jugend eine glückliche Zeit war, wiewohl er sich gegen Ende überschattet zeigte von den Nöten der Pubertät und des generellen Vernünftig Werdens. Doch so erging es ja den meisten im Internat, und im Nachhinein fiel es mir im Gegensatz zu nicht wenigen anderen relativ leicht, Abstand davon zu gewinnen und über das damals Durchlebte lachen zu lernen.
Ich gehörte zu den Jungen in Pippinsruh, die außerhalb des Unterrichts gerne auch einmal allein ihren Gedanken nachgingen, meistens jedoch teilte ich meine Freizeit mit meinen Freunden, drei mir etwa gleichaltrigen Knaben, deren Namen f, Konrad und Hippolith waren.
Für lange Zeit lebten meine drei Freunde und ich ein Leben im leichten, selbstgewählten Abseits der Internatsgesellschaft. Uns deshalb als irgendwie geartete Verlierer unseres Jahrgangs zu bezeichnen, wäre indessen falsch. Niemand machte sich lustig über unsere gänzlich unsnobistische Distanziertheit. Wir waren einfach vier Jungen, die sich gefunden hatten und einander genügten. Und unsere Mitbewohner ließen uns, die meiste Zeit wenigstens, halb respektvoll in Ruhe.
Im Übrigen isolierten wir uns nicht vollkommen. Wir nahmen durchaus, Kinder, die wir noch waren, zuzeiten sogar mit Begeisterung, am Internatsleben teil.
Wenn wir vier aber, zehn oder elf Jahre alt, über die Wiesen, durch den Wald oder die breite Lindenallee des Internatsgeländes spazierten, egal zu welcher Jahreszeit, ob es nun schneite oder die Sonne zum Schwimmen einlud, so waren unsere überwiegenden Gesprächsthemen Technik, Wissenschaft und Science Fiction. Stoffe und Inhalte, die für Jungen unseres Alters völlig normal waren. Immerhin waren wir Science Fiction-Kids. Wir hatten "Krieg der Sterne" und "Kampfstern Galactica" gesehen, wir verschlangen die Motorzeitschriften mit ihren immer stärkeren und aerodynamischeren Autos und Motorrädern, wir hatten die dreibeinigen Monster besiegt, wir kannten Godzilla und Mothra, wir hatten alle sechzig Bände der "Was ist Was"-Serie gelesen, die Legionen der Marvel-Helden von Superman bis zu den Fantastischen Vier waren uns besser bekannt als die griechischen Götter oder was sich weiter nördlich um die Weltesche Yggdrasil tummelte. Wir waren Science Fiction-Kids, so wie eben 98 Prozent der anderen Jungen in unserem Alter auch.
An traditionellen Idealen und Männerbildern erzogen, waren ein weiteres unserer Hauptthemen Waffen in jeglicher Ausführung, darunter im Besonderen, da am machtvollsten, natürlich die modernen. Wen hätten die Atompilze im Fernsehen nicht fasziniert, die hunderttausend toten Japaner, die weit weg in der Vergangenheit und am anderen Ende der Welt auf einen Schlag ihr Leben verloren hatten. Selbstverständlich waren wir angezogen von der Macht, die einem einzelnen Menschen in die Hand gelegt werden konnte, so wie die Jungen früherer Zeiten fasziniert waren von der Möglichkeit, einem Menschen mit einem gezielten Schwerthieb zu überwältigen oder mit einem einzigen Flintenschuß einen Vogel vom Baum zu holen. 
Es ist für Jungen unseres Alters zu allen Zeiten erregend gewesen, über diese Dinge zu sprechen und nachzudenken, und all unsere vorpubertären Jahre über waren die verschiedenen Waffen und Tötungsarten des Menschen immer wieder Gegenstand unserer Unterhaltungen. Wir malten uns die herrlichsten Explosionen aus, Zielfernrohre, die auf Kilometer Entfernung zentimetergenau zielten, einstürzende Häuser auf Knopfdruck, unsympathische Menschen, die von einer Sekunde auf die andere ins All katapultiert werden konnten, und so fort.
Wenn wir nachts in unseren Betten lagen und still zu sein hatten, dann hatten wir natürlicherweise ebenso Lieblingsthemen, mit denen wir uns hingebungsvoll, bis der Schlaf uns geholt hatte, zu beschäftigen pflegten. War es kalt, so stellten wir uns vor, in der Schlafkoje eines supermodernen Raumschiffs zu liegen. Wir fühlten uns wie die größten Helden dabei. Draußen im All hatte es minus 270 Grad, doch wir trotzten der übergewaltigen Natur mit unserer geheizten Schlafkoje. War es Sommer und warm, so lotste unsere Phantasie uns auf einen roten mediterranen Planeten, wo wir mit atemberaubender Geschwindigkeit Rennen bestritten, die wir nach hartem Kampf so gut wie immer gewannen. Stets war die Sonne auf diesem Planeten am Untergehen, und Hunderttausende jubelten uns dabei zu.
Wurden wir mal verdroschen, und solange es Jungen gab, die stärker waren als wir, wurden wir alle hin und wieder verdroschen, ich kann mich erinnern, wie f, der ein sehr eigenwilliger Charakter sein konnte, eines Abends von ein paar Jungen aus der Abiturklasse in den Wald getrieben wurde und erst ein paar Stunden später, lange nach Zapfenstreich, zum Fenster wieder hereingeklettert kam. Selbst die Hosen voll vor Angst, hatten wir sein Bettzeug ausgestopft, damit die Erzieher seine Abwesenheit nicht bemerkten. f hatte ein blaues Auge und Blutergüsse zogen sich seinen ganzen Rücken hinunter. Bauchkrämpfe schüttelten ihn, ja, er konnte kaum noch gehen in dieser dunklen Nacht. Sie hatten ihm so fest in die Eier getreten, wie es Achtzehn- bis Zwanzigjährige mit gutem Gewissen eben gerade noch konnten.
Wurden wir also mal geschlagen oder auf andere Weise von irgendjemandem schikaniert, so stellten wir uns in unseren nächtlichen Phantasien natürlich vor, wie wir es dem- oder denjenigen so richtig heimzahlten, mit einem durchtrainierten Körper, mit durch Hi Tech-Maschinen oder Außerirdische beschleunigtem körperlichem Wachstum, oder mit den raffiniertesten Waffen die wir uns ausdenken konnten.
Als ich älter wurde, habe ich mich immer wieder gefragt, in wie weit sich diese Vorstellungswelten der Jugend auf unser Erwachsenendasein ausgewirkt haben.
Mir persönlich ist es wohl gelungen, mich durch beständige und möglichst schonungslose Selbstreflexion halbwegs von aller erlittenen Grausamkeit zu distanzieren.
Hippolith, ein Charakter, der schon immer eher alles in sich hineinfraß, fand über extremen Sport und Leibesertüchtigung zu innerem Gleichgewicht.
Konrad fand Zuflucht im höheren Dienst und einer undurchdringlich gewordenen reaktionären Geisteswelt. Wenn er mit seinen Freunden alleine ist, dann sind Blut und Eisen seine Lieblingsparolen, und Bismarck schwebt als Halbgott in Weiß, mit einem Säbel um die Hüften und Stulpenstiefeln unerreichbar hoch über ihnen an der getäfelten Zimmerdecke.
Doch was konnte aus jemandem wie dem in seiner Kindheit schon von Albträumen geplagten f werden? Seit zwanzig Jahren hat niemand mehr etwas von ihm, der wahrscheinlich intelligenter und begabter als jeder andere Junge seines Alters auf diesem Planeten war, gehört.
Oft, in Momenten des Pessimismus und der Niedergeschlagenheit frage ich mich: Wie wird ein Genie sich äußern, das von allen Seiten gewalttätig unterdrückt wird und wurde, und dem die technische Entwicklung eine immer größere physische Macht in die Hände legt?


Pony-Raimund

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Pony-Raimund


          
Es ist ein typischer Samstag-Vormittag, und Raimund kümmert sich, so wie meistens in seiner freien Zeit, oben auf der Koppel um seine falbe Ponystute "Young Lady".
Jeder, der von Raimund schon einmal gehört hat, weiß, daß er der größte Wildwest-Fan weit und breit ist. Auch heute sitzt auf seinem Kopf sein Original-Cowboyhut und klappern unterhalb seiner Cowboy-Jeans an seinen Original-Lederstiefeln seine Original-Cowboy-Sporen, die er im USA-Westernshop erstanden hat. Weil Herbst ist, und die Tage langsam kühler werden, hat Raimund auch schon seinen Original-Wildwest-Ledermantel angezogen. Der schützt ihn sowohl vor Kälte als auch vor Feuchtigkeit und sieht obendrein noch cool aus.
Mit völliger Selbstverständlichkeit sattelt Raimund Young Lady, zieht fachmännisch den Ledergurt um den Bauch des Tieres fest, legt das Geschirr um den Hals des Ponys und kratzt sich danach in aller Seelenruhe den Schnauzbart. Ein Fremder, der Raimund so bei der Arbeit zusieht, könnte gar nicht anders, als anzunehmen, hier einen echten, mit allen Wassern des Lebens gewaschenen Cowboy vor sich zu haben.
Raimund hat sich gerade elegant und ohne irgendwo hängen zu bleiben in den Sattel geschwungen, als in der Ferne auf einmal die Sirenen losheulen. Allerdings heulen samstags die Sirenen immer irgendwann los, es ist der wöchentliche Probealarm im Landkreis. Deshalb achtet Raimund auf das Getute und Geblase auch gar nicht, und gibt statt dessen Young Lady gefühlvoll die Sporen.
Nach ein paar Minuten, Raimund reitet auf der Koppel gerade im Kreis herum, nähert sich sein Nachbar, der Bauer Bepp, panisch mit dem Traktor und schreit im Vorbeifahren, heute sei wirklich was passiert, Raimund solle sich aus dem Staub machen, und zwar so schnell er nur könne.
Raimund reagiert sofort. Kopfnickend und indem er noch schnell mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen die Krempe seines Cowboyhuts klopft, bedankt er sich für die Info, dann treibt er Young Lady bereits in die Scheune, schaufelt dem Pony Futter für ein paar Tage in die Krippe, läßt ein paar Wannen mit Trinkwasser vollaufen, schließt die beiden Fensterläden und verriegelt das große Tor. Anschließend rast er mit seinem Moped nach Hause, wo seine Mutter und seine Frau ihn verängstigt erwarten, und sperrt sich mit den beiden in den Keller. Dort fällt ihm ein, daß er Young Lady vielleicht doch besser hätte laufen lassen sollen und rennt wieder nach oben.
Klagend versuchen die Frauen, ihn aufzuhalten, doch Raimund ist in Gedanken schon wieder voll in Aktion. Er startet sein Moped und braust den kleinen Hügel hinan, wo oben Young Ladys Scheune schon wieder in Sichtweite kommt. Sekunden später schleudert dann eine Bombe, deren Wirkung die Vorstellungskraft Raimunds und noch viel mehr diejenige Young Ladys übersteigt, die man möglicherweise allein noch mit der Sprenggröße "Quadriga-Tonnen" halbwegs festzuhalten vermag, die Scheune, Raimund, der Berg, ja, mehr oder weniger den ganzen Kontinent aus ihrer jeweiligen körperlichen, weltlichen, irdischen Existenz.



Nachgeschobenes Vorwort


   Das ursprüngliche Nachwort zu "Das Ende der Menschheit - Ein Märchenbuch", zuletzt überarbeitet, ich glaube 2005.


Nachgeschobenes Vorwort:


Kai Wilhelm von Rosenstock-Bono ist Fabrikant, Lyriker, Schriftsteller, Essayist, Musical-Intendant und ehemaliger Europameister in den sportlichen Disziplinen Fünfsprung und Caber Toss. Er nennt Besitzungen in Goslar, Wernigerode und Garmisch sowie in Fortaleza und Boston sein Eigen. Er ist so bekannt wie erfolgreich, seine Ehrenämter sind zahllos, sein Reichtum sagenumwoben.
Es erscheint offenkundig, dass ein Mann wie Herr von Rosenstock-Bono nicht gerade an Minderbeschäftigung leidet. Trotzdem aber belädt er sich nun auch noch mit der gewaltigen Aufgabe, der Öffentlichkeit auf dieser Internetseite etwa ein Jahr lang (in Abständen von einer Woche) jeweils einen neuen witzigen Einfall, vielleicht auch eine gefühlvolle Kurznovelle, eine verwegen knapp gehaltene Short Story, eine bezugsreiche Anekdote, in jedem Fall aber irgend etwas Literarisches und Schriftlich Festgehaltenes über den Zeitraum kurz vor, während und nach dem Ende der Welt vorzulegen. Ist das nicht wirklich enorm? Doch was versteht er unter dem Ende der Welt eigentlich genau?
Wohl hauptsächlich das Ende der Menschheit, wie Herr von Rosenstock-Bono selbst sagt. In seinem Essay "Grüner Flieder für Rudolf Prack" äußert er sich, der Auskommen und Befindlichkeit des Menschen stets in das Zentrum seines Denkens und Schreibens zu stellen versucht, in anderem Zusammenhang folgendermaßen:

"So groß die Katastrophe auch sein mag, und ginge das Universum persönlich unter: Das eigentliche Verhängnis ist und bleibt für den einzelnen Menschen das Ende der Menschheit selber. Eine größere Horrorvorstellung als plötzlich allein im Auto, auf der Welt, im Universum zu sitzen kann es für diese Menschheit nicht geben."

Doch warum in aller Welt setzt ein Mann wie Rosenstock-Bono sich überhaupt mit solchen Dingen auseinander? Warum legt er sich nicht ins Freibad von Fortaleza und lässt alles ein wenig ruhiger angehen? Könnte er, ein begnadeter Skifahrer, nicht einfach ein paar elegante Schleifen auf den Graspisten von Garmisch schwingen oder sich seinem dreizehnten Hobby widmen, dem Skijöhring? Nötig haben kann er diese Schreiberei ja wohl nicht. Was treibt ihn also an dazu?
Detailliertere Aufklärung über die Motive des Autors erhält man aus einem Brief desselben an die Dichterin Victoria Rheintaler-Pölz. Im Voraus möchte Herr von Rosenstock-Bono aber noch, sich auf die Frage der Beweggründe beziehend, betonen, daß der Künstler hierin eben keine Wahl habe, das Werk müsse vorangetrieben werden, und die Richtung dabei könne ihm nur sein Herz, sein Gemüt, sein künstlerisches Ego oder wie auch immer man jene innerseelische Einrichtung nennen will, vorgeben. Nun aber zu dem Brief:

"Liebe Victoria,                                                                                                                                                         
was machen Dein Mann und die vierzehn Katzen? Ich hoffe, sie haben ihre Grippen, Arthrosen, etc. überwunden und sind alle wieder wohlauf.
Lass mich Dir nochmal danken für unser letztes Gespräch. Eines ist mir dadurch wieder klar geworden. Unsereins sollte sich eben nur für Projekte engagieren, von denen es selbst überzeugt ist, und zu denen ihm vor allem genügend einfällt oder eingefallen ist. Beides kann ich für mein Kai Falke-Projekt aber nicht behaupten. Es war letztlich nur das Ergebnis dieser kurzen, inspirierten Stunde in Fortaleza, und ist mir seither, wenn ich ehrlich sein soll, nur noch fremd. Gestern habe ich meine Unterlagen dazu nach langem Hin- und Her endlich ins Archiv verbannt, wo sie hoffentlich auch bleiben werden. Dieser Roman war mir zu einer Last geworden, meine liebe Victoria, und dass ich ihn los bin, verdanke ich allein Deiner gnadenlosen Kritik.
Jetzt, da mein Kopf von Kai Falke befreit ist, möchte ich mich für die nächsten zwölf Monate einem von mir seit einiger Zeit zunehmend intensiv geheckten Projekt widmen. Ich habe Dir bis jetzt, glaube ich, noch nicht erzählt davon. Das Thema ist spektakulär. Es geht darin um nichts weniger als um das Ende der Welt. Ich will nun versuchen, wenn Du erlaubst, Dir das ganze Vorhaben ein wenig näher zu bringen.
Warum habe ich das Thema Dir gegenüber bis jetzt noch nicht erwähnt? Der Grund dafür ist einfach. Bis vor einem halben Jahr hatte ich den Gedanken, dass es eines Tages einmal wahrhaftig bis zum großen Ende kommen könnte, einfach noch nicht realisiert.
Natürlich stimmt es, dass ich mich schon als Student (Du erinnerst Dich an unsere spannungsgeladenen Diskussionen über Gott und die Welt) zu jeder Zeit umfassend über den allgemein vorherrschenden Fortschrittsglauben auslassen konnte. Dass die Menschheit sich aber tatsächlich einmal selbst auslöschen könnte, das stand für mich nie wirklich zur Diskussion. Mit dem unschuldigsten Gewissen sah ich über solche Gedankenspiele hinweg, und wenn mich einmal jemand daran erinnerte, dass es mit der Menschheit irgendwann, in ein paar Millionen Jahren vielleicht, sowieso aus wäre, dann wurde ich ganz schnell selbst wieder zum Fortschrittsgläubigen, denn alles, jede noch so schlimme Horrorvision von der Zukunft, war und ist mir wahrscheinlich immer noch lieber als ein Ende der von mir vorläufig noch immer geliebten Menschheit.
Natürlich stimmt es auch, dass ich schon als permanent den Anschluss verpassender Teenager über die unvorstellbare Ungeheuerlichkeit, oder vielleicht noch besser: unvorstellbar ungerheuerliche Gewalttätigkeit der kosmischen Vorgänge und die auch nicht unbedingt zimperlicher werdenden Zerstörungsweisen der Neuzeit (so wie alle anderen in diesem Alter auch) Bescheid gewusst habe. Beiden aber, den kosmischen Vorgängen wie den Zerstörungsarten, ist es nie gelungen, mich bis ins Innerste zu bewegen, und auch heute schaffen sie das noch nicht.
Gedanklich, kulturell wie geschichtlich gestehe ich beiden Themen gerne zu, zu den wichtigsten und interessantesten auf der Welt zu gehören, persönlich aber keineswegs. Die entscheidenden Probleme sind für den einzelnen, von einer Minderheit von Ausnahmen abgesehen, viel zu weit entfernt, als dass sie ihn noch persönlich treffen könnten, zumal die meisten Menschen (mich nicht ausgenommen) sich viel zu sehr daran gewöhnt haben, sich von allem, was ihnen nicht sofortigen Spaß verspricht, sofern sie nicht einem konkreten Zwang unterliegen, einfach ablenken zu lassen.
So dauerte es lang, bis sich das Unerfreuliche in meinen Gedanken möglicherweise kumuliert hatte, bis mir auf jeden Fall bewusst wurde, was alles geschehen, was alles angerichtet werden kann; und das bei einer Menschheit, die mich, der ich selbst nicht besser bin, jeden Tag aufs Neue in Zweifel stürzt, ob sie nun etwas dazugelernt hat oder ob sie einfach unfähig ist, sich über irgendwas klar zu werden. Und sich deshalb notwendigerweise selbst zerstören muss, wenn sie nicht vorher schon total von Maschinen kontrolliert oder substituiert wird. Unerfreuliche Einsichten, liebe Victoria, die aber leider nun einmal raus müssen.
Leider auch bin ich als Schriftsteller ähnlich schlecht wie Du als Dichterin, Victoria, und so wie Du wahrscheinlich bis an Dein Lebensende Wein auf Rhein und Freud auf Seligkeit weiterreimen wirst, werde ich es auch diesmal nicht hinkriegen, meine inneren Bewegungen deutlich und in einem einzigen Großtext zu erfassen. Ich kann es nicht, und wenn ich es nur halbwegs in den zweiundfünfzig für dieses Projekt geplanten kleineren Arbeiten könnte, dann wäre ich schon froh.
Was dazu kommt, ist, dass Wissenschaft und Faktenarbeit in meiner Praxis nach wie vor kaum mehr als unendliche Anstrengungen darstellen. Du weißt selber, wie elend ich in beiden Disziplinen zu versagen pflege, und wie wenig sie mir (notgedrungen) deshalb auch bedeuten. Es ist eben meine schwache Seite, und dies alles soll Dir als Erklärung genügen, warum diese Texte über das Ende der Welt, oder der Menschheit - für unsereins läuft das beides wohl auf dasselbe hinaus - zum allergrößten Teil nur kurz und literarisch sein werden.
Die Ideen für das Projekt kamen mir, wie ich es kenne, (ein Vorteil meiner intuitiven Arbeitsweise) größtenteils von selbst. Es begann vor etwa einem Jahr, als das Ende der Menschheit eines Tages ganz plötzlich und schlagartig anfing, mich zu inspirieren, ganz ähnlich wie es mir früher schon bei den Distichen und den "Alfred, der Ameisenbär" – Cartoons ergangen ist. An irgendwelche äußeren Anstöße dafür kann ich mich nicht erinnern. Am ersten Tag war es nur ein Einfall gewesen, den ich gar nicht so sehr beachtet habe, am nächsten Tag waren es dann schon fünf, etc. Innerhalb kürzester Zeit stapelte sich so Entwurf auf Entwurf. Als die Eingebungen ein paar Wochen später dann langsam spärlicher wurden und schließlich ganz aufhörten, wusste ich, dass die Vorarbeiten nun abgeschlossen waren, und dass es nun galt, mit aller Kraft in deren Ausführung einzusteigen. Der Verwirklichung des Ganzen standen da allerdings noch die unzähligen Verpflichtungen des letzten Jahres und andere lyrische und epische Pläne, von denen Dir die meisten bekannt sind, entgegen, und haben mich eigentlich bis gestern davon abgehalten. Doch ab heute will ich es nun angehen, und das war in Kürze also mein Plan.

Liebe Victoria, bitte fang bei den Zeilen, die jetzt folgen, nicht zu heulen an. Das Leben wird immer irgendwie weitergehen, und sei es auch nur im Kosmischen und im Spirituellen, und auch wenn dabei alle rührselige Dichtkunst mit der allergrößten vorstellbaren Wahrscheinlichkeit irgendwo auf der Strecke bleibt.
Es ist meine Überzeugung, dass die Menschheit sich, was ihr selbstbestimmtes weltliches Fortkommen betrifft, schon längere Zeit in einer entscheidenden Phase befindet. Irgendwann einmal zu Beginn dieser Phase hat sich der technische Fortschritt in einen Selbstläufer verwandelt, der sich nicht mehr aufhalten läßt, und ohnedies wären die wenigsten Menschen bereit dazu. So wie ich es heute sehe, kann die weitere Entwicklung dieses Fortschreitens nur in drei (beliebig untereinander kombinierbaren) Szenarien münden:

1.   Einem hochtechnisierten Überwachungsstaat in welcher Ausprägung auch immer,
2.   eine größtenteils durch Technik substituierte menschliche Existenz (im psychischen wie im physischen), und Du weißt, was ich alles zur Technik zähle, Victoria, und
3.   einer totalen oder, im glücklicheren Fall, zumindest in ihrem Ausmaß nicht gekannten Zerstörung der Menschheit und ihres Planeten.

Dass die Ausschaltung aller humanen, d.h. der guten wie der schlechten menschlichen Elemente im physischen wie im gesellschaftlichen Körper nun tatsächlich das ist, was so viele Menschen sich wünschen, ist etwas, das ich schon irgendwie respektieren kann, weil ich letztlich ja muss, das ich mir selber zu wünschen aber vollkommen unfähig bin. An schlechten Tagen stürzt mich der Gedanke daran in echte Verzweiflung und ein lähmendes Gefühl des "Von allen guten Geistern-Verlassen Seins". Geht es mir besser, treibt er mich mehr in die Raserei, und nur an den besten Tagen gelingt es mir, halbwegs gelassen darüber hinweg zu sehen.
Möglicherweise geht der Übergang vom Menschen zum Roboter ja aber auch so langsam und fließend vor sich, dass er niemandem wirklich wehtun wird. Auch ich trage ja schon diverse Implantate in und an mir herum. Aber was lasst sich von meinem heutigen Standpunkt aus schon dazu sagen. Was ich sehe, ist, dass die zunehmende Technisierung unser Leben schon seit der Zeit unserer nächsten Vorfahren wie ein Grundbass begleitet. Wir mögen uns mit Politik, kulturellen Dingen, den immer lachhafter werdenden Ausbildungsprofilen und Berufsvoraussetzungen, in besonderen Zeiten vielleicht auch mit unseren inneren Angelegenheiten beschäftigen, die Technisierung unseres Lebens aber schreitet Tag für Tag, schneller und immer schneller voran.
Zugegeben, so viel ist bis heute noch nicht passiert. Die Umweltbewegung, die Kriege und der Terror der letzten Jahre haben Spuren hinterlassen, aber auch diese Momente waren noch viel zu weit weg, um irgendwas zu bewegen, und es war letztlich ein Kinderspiel, sie als Akte aus meinem Gefühlsleben zu verdrängen. Ich kann heute beispielsweise immer noch lachen. Ich kann und darf noch fast alles sagen, obwohl mir die allgemeine politische Korrektheit manchmal wie ein Riesenkalmar vorkommt, der der Welt die Gurgel aus den verschiedensten Richtungen gleichzeitig abzudrücken droht. Aber gesellschaftliche Tabus gibt es ja, seit es Menschen gibt. Und auf irgendeine Art ist es schließlich immer weitergegangen. Andererseits kann in der Informationsgesellschaft die Frage, ob alles übergreifende Tabus überhaupt noch möglich sind, entscheidend werden. Machtausübung in unseren Tagen, wenn sie einmal wirklich hinhaut, wird eine so gewaltige Sache sein wie niemals zuvor in unserer Geschichte. Vielleicht auch wie niemals danach.
Doch wie es auch sei. Der Hauptgrund, warum ich gerade jetzt über das Ende der Menschheit schreiben will, ist vermutlich der, dass mir klargeworden ist, dass ich heute, obwohl das Thema beängstigend aktuell ist, noch so manchen Witz daraus ziehen und selber darüber lachen kann. Und wer weiß schon, wie lange das noch möglich ist? Die Autoren der klassischen Science Fiction oder Leute wie der frühe Douglas Adams, in dessen Werk sich das Vor-die-Hunde-Gehen der Großartigkeit und Naivität einer ganzen genialen Generation dokumentiert, kommen einem heute mit ihrem anthropozentrischen Weltbild schon manchmal so vorsintflutlich vor wie Rousseau oder Eschenbach. Als Borges bei Ernst Jünger wieder mal auf ein paar Flaschen Rotwein vorbeikam, meinte Jünger in etwa (ich zitiere hier aus meinem schlechten Gedächtnis), dass er die Zukunft der Menschheit eher ameisenhaft sehe, woraufhin Borges schmunzelnd, aber doch ein ganz klein wenig scheuklappenhaft meinte, wo denn dann das INDIVIDUUM bleibe. Es ist wie in Raffaels Schule von Athen, nur dass die beiden nicht wie Plato und Aristoteles nach oben und nach unten deuten, sondern Borges nach hinten und Jünger mit wissender Ahnung und einem für seine inzwischen hundertzehn Jahre (oder so) erstaunlich jungenhaften Lächeln nach vorne .
Vielleicht ist der Moment innezuhalten, mit der Menschheit seinen Frieden zu schließen und sich mit ihrem Ende abzufinden aber auch schon längst gekommen. Wenn ich mich recht erinnere, gibt oder gab es einmal Weltanschauungen, in denen die Menschheit von Haus aus als sterblich angesehen wurde. Man vergisst das so leicht in der heutigen Zeit. Viele Menschen hören ihr ganzes Leben lang nichts davon.
Aber auch das soll kein Argument sein. Das Projekt, meine liebe Victoria, liegt mir, von allem anderen abgesehen, wohl einfach am Herzen, so wie all meine anderen Projekte vorher. Es stecken meine persönlichen Eingebungen darin, und als mich nach wie vor irgendwie als "Künstler" empfindender Schriftsteller will ich es eben fertigbekommen und losbringen, auf welche Art dann auch immer.
So viel also zu meinen Plänen. Was machen Deine Versuche in sentimentaler Kalligraphie? Meine Angetraute, Du weißt wie sie ist, äußerte neulich als wir gemeinsam beim heiteren Abendmahl saßen, Jean uns die Suppe servierte und Johnny Blue lautlos seine nasse Schnauze mit sehnsüchtigem Blick über die Tischkante schob, die Ansicht..."

So weit Herr von Rosenstock-Bono in einem Brief an die Dichterin Victoria Rheintaler-Pölz.