Montag, 21. Januar 2013

Die Grenzen des Wachstums



Es ist merkwürdig, wie diese Arbeit nach den weltwirtschaftlichen Turbulenzen der letzten beiden Jahren anmutet. Das ganze Vehikel ist ja nur ein paar zerquetschte Jahre alt, und doch überkam mich Wiederlesen ein Gefühl intensiver Melancholie, so als stünde ich mit meiner Erinnerung am Rande weit tieferer, unspezifischerer und über meine Person hinausgehender Dinge. Ist halt doch recht unauslotbar tief, der Brunnen der Vergangenheit…



Die Grenzen des Wachstums
(Gedankenspiel eines halbgebildeten Eiferers)
 (Man hört ihm kopfschüttelnd zu)


Sehr geehrte Damen und Herren,
gewähren Sie mir die Bitte, für die Dauer dieses kurzen Gedankenspiels anzunehmen, die Welt sei nur ein System, bewegt durch überschaubare äußere und innere Einflüsse, ohne größere Schwierigkeiten darstellbar mit Hilfe einfacher Theorien und Schemata.
Ich danke Ihnen.
Lassen Sie mich, unter dieser Voraussetzung fortfahrend, die Welt in drei Gefäße von etwa gleicher Höhe und gleichem Volumen einteilen. Jedes dieser Gefäße sei zu Beginn des Versuches zu etwa einem Drittel gefüllt, ihr Standort sei der Deckel einer Schachtel original-belgischer Pralinés. Füllstoff der Behältnisse bilde eine fortab x zu nennende Flüssigkeit. Basis und Grundstoff für diese Flüssigkeit wiederum bilde der Inhalt der oben angeführten Pralinenschachtel.
Nehmen wir, mit ihrem werten Einverständnis, nun an, die Flüssigkeiten x1-3 innerhalb der Gefäße dümpelten über Äonen ohne große Veränderung, nicht immer zufrieden zwar, im Großen und Ganzen aber doch mehr oder weniger gleichmütig vor sich hin.
Nehmen wir weiterhin an, einige der größten Denker innerhalb dieser Lebensräume entwickelten eines Tages die Idee, das Glück aller ihrer Einwohner hänge vom deren persönlichem Wohlstand ab, dieser wiederum aber vom Volumenwachstum der Flüssigkeit x, weshalb dringend und unter allen Umständen auf ein stetiges, allgemeines Volumenwachstum der Flüssigkeiten xp geachtet werden müsse.
Sodann sollen nach einer Weile, begeistert von dieser Idee, die befehlsgebenden Gremien zweier der Gefäße entscheiden, die Volumina ihrer Flüssigkeiten x1 bzw. x2 hätten fortan beständig größer zu werden, andernfalls Glück und Wohlstand ihrer Gefäße ja abnähmen bzw. nicht zulegen könnten.
Den Weisungen der Befehlshaber Folge leistend, mehren genannte Flüssigkeiten also Glück und Wohlstand ihrer Gefäße, indem sie sich in stetigem Tempo auf etwa zwei Drittel ihrer jeweiligen Gefäßhöhen ausdehnen.
Nachdem die Pegel in den beiden Gefäßen wachstumsbedingt aber immer weiter ansteigen, erkennt man dort langsam, daß die Sache mit dem Wohlstand gar nicht so einfach funktioniert. Denn Glück und Wohlstand setzen offensichtlich fortgesetztes Wachstum voraus, mit der Betonung auf fortgesetzt, was in einem begrenzten Gefäß, nicht gleich selbstverständlich, aber mittelfristig, doch irgendwann einmal zu einem Platzproblem führen könnte.
Man beschließt daher nach einigem Überlegen, vorerst einmal kleine Teile seiner eigenen Flüssigkeit xbzw. xan die jeweils beiden anderen Gefäße abzugeben, und im Gegenzug etwa ebensoviel oder ein bisschen weniger vielleicht von der Flüssigkeit x1-3 der beiden anderen Gefäße zurück zu erhalten.
So schwappt für eine ganze Weile Flüssigkeit zwischen den Gefäßen hin und her, was zur Folge hat, daß die Pegel der beiden wachstumsgewillten Gefäße immer höher steigen, während der Pegel des dritten, da die beiden anderen Gefäße nach wie vor allem die eigene Füll-Flüssigkeit im Auge haben, sogar noch ein wenig sinkt.
Auf Dauer ist diese ständige Hin- und Herschwapperei freilich allen drei Gefäßen zu lästig, zu kostenintensiv und überhaupt viel zu langsam, und so fängt man an, in gegenseitigem Einvernehmen, achthundert gewaltige Röhren zu errichten, die alle drei Gefäße miteinander verbinden, und mit deren Hilfe sie von nun an so viel Flüssigkeit untereinander austauschen können, wie sie nur immer wollen.
Diese Strategie hat mehrerlei Auswirkungen. Die Flüssigkeit in den beiden besser gefüllten Gefäßen vermehrt sich jetzt noch rasanter, und bald sind diese Gefäße zu gut neunzig Prozent voll. Bei dieser gewaltigen Menge an Flüssigkeit und dem weiterhin recht bescheidenen Pegel in dem dritten Gefäß läßt sich bei einer gleichzeitig so starken Zirkulation, und die Flüssigkeiten x1-3 zirkulieren wie verrückt mittlerweile, nicht mehr alle Flüssigkeit halten, und so steigt das Ausmaß der Flüssigkeit in dem dritten Gefäß, das inzwischen selbst auf den Geschmack des Volumenwachstums gekommen ist, jetzt schneller als die in den beiden anderen Gefäßen es je getan haben.
Theoretisch müssten in der Folge alle drei Gefäße irgendwann einen Pegel von hundert Prozent erreichen. Zuerst einmal aber wollen alle Gefäße, weil sie in ihren beinah vollen Innenräumen keine Wachstumsmöglichkeiten mehr sehen (und andere Gefäße gibt es ja nicht, höchstens Omas Tschenstochauer Gläsersammlung in der Vitrine, aber die ist hier, von der Pralinenschachtel aus, vorläufig unerreichbar), wenigstens das Potential der beiden anderen Gefäße für sich nützen.
Es existieren verschiedene Thesen darüber, wie das zu bewerkstelligen wäre.
Man könnte beispielsweise die Flüssigkeit in den beiden anderen Gefäßen so lange erhitzen, bis alle Flüssigkeit darin verdampft ist, um dann wieder bei optimaler Ausgangsposition von vorne anzufangen.
Oder man bohrt in die unteren Teile der Gefäßwände große Löcher, woraus die Flüssigkeiten dann ohne Probleme entweichen könnten, und wenn die jeweiligen Gefäße sich geleert haben, verschließt man die Löcher einfach und fängt wieder von vorne an.
Oder man leitet die Flüssigkeit gleich in die inzwischen halbleere Pralinenschachtel zurück.
Vielleicht wäre auch eine Art von idealem Gleichgewicht möglich, ein Gleichgewicht, das sich hält, bei dem alles, was an der einen Stelle vergeht, irgendwoanders wieder dazuwächst, bei dem jeder und jedes gleich, mit gleichem Respekt quasi, mit dem anderen umgeht. Das wäre dann in der Tat eine Art von Idealzustand, ein Paradies, geschaffen bis zum Ende der Zeiten.
Doch zu einer Verwirklichung auch bloß einer all dieser Überlegungen kommt es nicht annähernd. Nachdem die Bewohner aller drei Gefäße nämlich dieselben Eigeninteressen verfolgen, und die Beschränktheit ihres Denkens sie außerstande setzt, die Sprüche ihrer Weisen in Frage zu stellen, überziehen sie sich gegenseitig mit blutigem Krieg, was durch ihre inzwischen wachstumsbedingt hochentwickelte Technologie zur Folge hat, daß alle drei Gefäße unwiderruflich zu Bruch gehen.
Alle Flüssigkeit verliert sich dadurch in die Umgebung, während auf der Pralinenschachtel nichts verbleibt als ein beeindruckender, bei aller Anstrengung zu kaum mehr etwas als zur Betrachtung zu gebrauchender Scherbenhaufen.