Sonntag, 4. April 2010

Die Mondpleite - Erster Teil



Teil einer Reihe von Texten, Ende der Neunziger unter dem Titel "Aus der Welt des 21. Jahrhunderts" konzipiert, die jeweils mit einem Kommentar aus dem 22. Jahrhundert versehen werden sollten. Drei Arbeiten, so weit ich das übersehe, existieren noch: "Die Geschichte meiner Liebe und meines Erfolgs" über den ersten computergenerierten Bestseller, "Wie wir uns kennenlernten" über eine zukünftige, in Augsburg angesiedelte Heiratsagentur und die hier folgende "Die Mondpleite".
In ihrem selbstverständlichen Größenwahn kann diese Arbeit recht passend noch zu den frühen Grotesken gerechnet werden. Immerhin, in der Übersichtlichkeit des Textes, in dessen linearem Ablauf, im gezielten Wechsel der Schauplätze und in einigen Gags (das Raum-Negligee erscheint mir immer noch als ziemlich guter Witz) spiegelt sich eine gewisse Qualität. In gleicher Weise die Schluss-Szene, die in ihrer lakonischen Größe und im Vergleich zu Schlüters einfacher Erzählsprache und demonstrativer Naivität ein wenig wie aufgesetzt wirkt.
Man beachte weiterhin die leider nicht mehr aktuelle Anspielung auf Michael Jackson, dem ich damals und bis zuletzt nur noch den allergrößten Mist zugetraut habe. Ein wenig zu Unrecht natürlich, denn auf ein, zwei gute Nummern und ein herzzerreißend defektes Video hat dieser große Leidende es zu Lebzeiten immerhin noch gebracht.


Aus der Welt des 21. Jahrhunderts:

Die Mondpleite


Als ich mich in Biggi verliebte, hatten wir schon einige Zeit in derselben Firma gearbeitet, ohne dass wir uns gegenseitig einmal besonders aufgefallen wären. Nachdem wir uns dann aber bei der Grillparty eines Kollegen näher kennengelernt hatten, hatte es plötzlich gefunkt, und auf einmal war es so, als hätten wir uns schon zwanzig Jahre gekannt. Wir trafen uns irgendwie immer öfter, zogen uns, wenn wir zusammen  waren, gegenseitig durch den Kakao und steckten unsere Freunde mit unserer guten Laune an. Bald wusste jeder in unserem Bekanntenkreis, dass, wenn Biggi und ich auf derselben Party auftauchten, für die Stimmung so gut wie gesorgt war.
Biggi wurde allgemein als echte Schönheit beschrieben, und ich hätte dieser Ansicht als Letzter widersprochen. Sie war einachtzig groß, ihre Figur war vollkommen, und besonders ihre superlangen Beine wurden immer wieder bewundernd erwähnt.  Ihr Haar war schulterlang und immer super gepflegt, so als wäre sie jeden Tag beim Friseur, und wenn sie lachte, was ziemlich oft vorkam, dann bildeten sich zwischen ihren Augenbrauen immer zwei attraktive senkrechte Falten. Biggi war eine Traumfrau auf den ersten Blick, und die Kerle liefen ihr in Scharen hinterher.
So war es also eigentlich kein Wunder, dass es eines Tages auch mich wie ein Schlag traf und mir klar wurde, dass ich nicht nur schon vom ersten Moment an in Biggi verknallt war, sondern dass ich ohne sie nicht mehr leben konnte noch wollte. Wir hatten oft genug im Scherz und halb im Ernst ausgesprochen, dass wir uns liebten, und jetzt galt es eben Ernst zu machen, und auch noch den letzten Schritt zu tun.
Nachdem ich mir über meine Gefühle klar geworden war, war mir auch sofort klar, was ich zu tun hatte. Es konnte nur das Abgefahrenste und das Beste sein. Das war ich allein schon meinen eigenen Ansprüchen schuldig. Dass ich dann die Idee mit der Mondmission hatte, war eigentlich nur eine logische Konsequenz.
Je mehr ich mich in den Wochen danach mit dem Mond beschäftigte, desto stärker faszinierte er mich. Ich fing an Bücher zu lesen, im Internet zu recherchieren. Schon immer stand der Mensch unter dem Einfluss des Mondes, ließ sich von ihm erregen, verführen und inspirieren. Wie viele große Taten mögen unter Lunas Schein geschehen sein? Welche Meisterwerke entstanden gerade wegen dieses Typen Luna! Beispielsweise ist bewiesen,
·          dass Romeo das erste Mal bei Mondschein vor Julia auf die Knie fiel,
·          dass Johann Wolfgang von Goethe fast nur bei Vollmond Gedichte schrieb,
·          dass Michael Jackson unter Lunas Strahl die Ureingebung zu seiner zeitlosen Lovestory hatte.
Und das sind ja nur ein paar Beispiele!
Die Äquivalenz zwischen menschlicher Zuneigung und der Existenz des Mondes erschien mir als absolut ungeheuer, und auf dieser Grundlage war mein Einfall auch absolut folgerichtig. Das ganze Projekt war die Krönung unser ganzen Beziehung!
Irgendwann war ich dann mit der Planung fertig, und der praktische Teil konnte beginnen. Es gab hunderttausend Sachen zu organisieren, Stunden über Stunden verbrachte ich am Handy und vorm Computer, dazu kamen zwei Riesen-Geheimparties, einmal auf der Zugspitze und einmal auf Sylt, ein paar Ortstermine und so viele geheime Treffen in schicken Bars und Restaurants, dass ich irgendwann zu zählen aufhörte.
Nach vier Monaten ungefähr hatte ich dann alles geschafft. Mein Bankkonto hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon heillos überzogen, und ich persönlich stand knapp vorm Nervenzusammenbruch, aber mein Plan war dafür perfekt. Unser Chef hatte mir die Termine gegeben, wann Biggi frei haben konnte, eine Gärtnerin hatte mir erklärt, dass farbige Hanfblüten die einzige Blütenart überhaupt sind, die bei minus zweihundert Grad und ohne Sauerstoff nicht gleich kaputt geht, das Flugproblem selbst hatte ich durch das Geld und meine Freunde bei der ESA gelöst.
Als ich dann endgültig sicher sein konnte, dass alles klar gehen würde, lud ich Biggi zu Meier's ein, dem schicksten Restaurant in der Stadt. Beim Schein der schönen Kerzen kam sie mir vor wie ein höheres Wesen. Es war unglaublich.
Nach dem Dessert bestellten wir Cappuccinos und ich erklärte ihr meine Pläne. Biggi war absolut hingerissen. Sie fiel mir um den Hals, rief ein paar Mal "Ich liebe dich, Stefan!" und gab mir einen innigen Kuss. So begeistert hatte ich sie noch nie gesehen.
Natürlich hatte ich vorher schon gewusst, dass es Biggis größter Traum war, einmal schwerelos zu sein und die Erde von oben sehen zu können, aber ihre offene Begeisterung war die perfekte Bestätigung, dass mein Plan funktionierte. Schon am nächsten Tag holten uns ein paar ESA-Vertreter zur ersten Vorbesprechung ab.
Die Wochen, die unserem Dinner bei Meier's dann folgten, verstrichen wie ein Flug in Lichtgeschwindigkeit. Arbeit, Packen, Weltraumtraining und viele gemeinsame Stunden mit Biggi. Es war eine wunderbare Zeit voller Glück und Hoffnung auf eine vereinte Zukunft.
So rückte der Starttermin immer näher. Drei Tage vor dem Takeoff war die Vorbereitung beendet, und die ESA gab uns frei. Ein Baby-Airbus brachte uns über die Alpen, nach Triest, wo wir uns im Hotel Filippo Lippi in der zur ESA gehörenden Astronautensuite einquartierten. Das von den ESA-Psychologen ausgegebene Motto für die letzten Tage hieß "Erholung Pur", und dementsprechend ließen wir uns im Hotel verwöhnen. Wir nahmen den Wellness-Service in Anspruch, wo es nur ging. Doch ein totales Abschalten war zu der Zeit sowieso schon nicht mehr möglich. Der Mond hatte längst angefangen, seine unsichtbaren Tentakeln nach uns auszustrecken und unsere innere Anspannung nahm mit jedem Tag zu.
Dann endlich war der Tag gekommen.
Punkt Sechs Uhr Dreißig rüttelten uns unsere automatischen Betten aus dem Schlaf.
Gegen Acht waren wir mit dem Frühstück fertig und startbereit. Wir unterhielten uns gerade in der Lobby, als ein Hotelangestellter zu uns herantrat und meldete, dass der Convoy draußen schon warte.
Kurz darauf saßen wir schon in voller Fahrt in unserer Limousine, begleitet von zwanzig ESA-Motorrädern als Eskorte. Das schönste Wetter begleitete uns. Die Morgensonne leuchtete goldfarben über der unbewegten Adria und strahlte warm durch die getönten Scheiben unseres ESA-Daimlers.
Vor dem Service-Terminal hielt unser Chauffeur nochmal an. Wir stiegen aus und machten uns auf den Weg zum letzten Gesundheitscheck.
Professor Lumpi war während der Vorbereitungszeit unser Freund geworden. Wir brauchten unsere Köpfe nur durch den Türspalt in sein Behandlungszimmer zu stecken, da sprang er schon hoch und lief johlend und mit erhobenen Armen auf uns zu. Da es gerade erst zwei Tage her war, seit der Professore uns das letzte Mal untersucht hatte, dauerte es nicht lang, bis er uns bescheinigen konnte, dass wir topfit waren. Noch einmal kam er lachend und mit dem Laborbericht winkend auf uns zu. Er umarmte uns in seinem Überschwang gleichzeitig und wünschte uns einen guten Flug. Ich warf inzwischen einen Blick auf meine Schweizer Weltraumuhr. Sie zeigte 9 Uhr und 20 Minuten.
Gegen Neun Uhr vierzig hatten wir die Startrampe erreicht. Biggi und ich entstiegen langsam einem ESA-Mannschaftstransporter. Eine gewaltige Menschenmenge jubelte uns dabei zu. Ganz vorne, hinter den Absperrungen, sahen wir all unsere Freunde und Verwandten, unter anderem auch Ritschie, den ich für einen Idioten hielt, und den ich mit voller Absicht nicht eingeladen hatte. Dass jemand anders für seine Anwesenheit gesorgt hatte, konnte ich damals ja noch nicht wissen...
Trotzdem war ich glücklich in dem Moment und auf die wunderbarste Weise nervös. Ich wusste ja, dass ich nie allein sein würde da oben.
Wir hatten uns nach der Untersuchung bei Professor Lumpi gleich umgezogen. Jetzt in ihren Space-Leggings sah Biggi hübscher als jemals zuvor. Wir umarmten uns zum x-ten Mal und schüttelten unseren Freunden durch die Absperrgitter die Hände. Unser Chef übergab mir augenzwinkernd noch ein Geschenk. Ich ahnte, was in dem Päckchen drin war und zwinkerte grinsend zurück.
Dann intonierte die ESA-Kapelle die ersten Takte der Europahymne. Wir stützten alle die rechte Hand in die Hüften und sangen los: "Laßt uns alle Freunde sei-hein, Freunde für die Eewigkeit..."
Ich liebe diesen Song. Aus ein paar tausend Kehlen gesungen machte er uns tatsächlich alle zu Freunden, zumindest für die Dauer des Songs.
Als die Hymne dann beendet war, stiegen Biggi und ich in den Shuttle.
Der Countdown passierte die Vier-Minutengrenze. Biggi und ich saßen angeschnallt in unseren Schalensesseln und winkten ein wenig verunsichert durchs Fenster nach draußen. Unsere Freunde winkten alle lachend zurück und versuchten daumendrückend uns Mut zu machen. Ritschie benahm sich inzwischen schon wieder wie ein Wahnsinniger, hüpfte grunzend zwischen den Leuten rum und schnitt die dümmsten Grimassen, die man sich vorstellen kann. Am Ende durchbrach dieser Idiot auch noch die Absperrung, kniete sich vor unser Fenster hin und grinste rein wie ein völlig hirnlahmer Elch. Biggi kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen.
Zum Glück hatte die Bodenkontrolle das alles mitgekriegt. Ich hatte schon Angst bekommen, man würde wegen des Blödmanns auch noch den Start abbrechen, aber dann schleppten ihn noch rechtzeitig zwei italienische Sheriffs ab.

Es war ein gewaltiges Gefühl, das Festland mit soviel Power zu verlassen. Der Rückstoß presste uns noch stärker in die Sitze als wir es vom Simulator her kannten. Die ersten hundert Kilometer waren wir kaum fähig, uns zu bewegen. Biggi drückte fest meine Hand, und ich drückte fest zurück. Ich war überglücklich. In dem Moment brauchten wir uns beide in gleichem Ausmaß.
Eine dreiviertel Stunde später hatten wir die Atmosphäre verlassen und durften uns abschnallen. Der Shuttle drehte noch eine schnelle Ehrenrunde, bevor wir in Richtung Mond starteten. Biggi und ich klebten am Panoramafenster, sie vorne und ich hinten dran, meine behandschuhten Hände auf ihrem Anzug.
Sie flüsterte: "Mein Gott. Das ist das Schönste, was ich je gesehen hab. Danke, Stefan, du bist der Beste."
"Nein, du bist die Beste, Biggi." sagte ich.
Dann fing der eigentliche Trip zum Mond an. Die Natrontriebwerke zündeten mit einem tiefem Knall und hinter uns erglänzte der leuchtende Schweif der Neutrinos. Drei Tage lang würden wir jetzt allein sein, zwei unbedeutende Staubkörner, allein zwischen zwei unbedeutenden Massekonzentrationen im All.
Ich stürzte mich sofort in die Arbeit. Der Forschungsauftrag, den uns die ESA erteilt hatte, lautete, einen Mäuseversuch zu überwachen und zwei Gesteinsproben aus unserem Mondkrater mitzubringen.
Der Mäuseversuch sollte die ganze Reise über laufen und bestand aus einem großen Parcours, bei dem die Mäuse zwischen allen möglichen Fressklappen, Lampen, elektrischen Türen und anderen Gimmicks auswählen mussten. Es war ziemlich lustig, den Mäusen zuzuschauen, wie sie versuchten, sich irgendwo fest zu halten und zu beschleunigen, während sie in der Luft schwebten. Ich merkte aber schnell, dass wir bei dem Versuch fast nichts zu tun hatten. Die Mäuse taten ihre Arbeit ja von allein, und den Rest erledigten der Computer und die Sensoren. Mir war das nur recht. So hatten wir noch mehr Zeit für uns und zum Sightseeing im All. Allerdings traten dann auch schon schnell die ersten Komplikationen auf.
Es war höchstens eine halbe Stunde vergangen, seit wir den Erdorbit verlassen hatten, als Biggi sich kreidebleich zu meinem Posten rüberhantelte.
"Ich glaub, mir ist schlecht, Stefan." stotterte sie.
Ich nahm sie tröstend in die Arme. Da fing sie auf einmal an zu schluchzen und bückte sich in der Schwerelosigkeit nach oben, so als müßte sie sich jeden Moment übergeben.
Ohne mir was anmerken zu lassen, reichte ich ihr eine Spucktüte, aber innerlich wurde ich langsam panisch. Was war, wenn es Biggi wirklich schlecht ging - oder wenn ich operieren musste?
Von solch dunklen Gedanken bedrängt, hantelte ich mich rüber zum Funkgerät und funkte zur Bodenkontrolle.
Monsieur le Professeur Roland, der diensthabende Arzt, stellte Biggi gleich ein paar medizinische Fragen. Biggi gab stockend und konzentriert Antwort. Danach musste der Computer ihren Blutdruck und ein paar Blutwerte kontrollieren, dann endlich stellte der Professor die Diagnose.
"Nichts Schlimmes, Mademoiselle, sie leiden an Raumkrankheit." sagte er schmunzelnd und verordnete Biggi ein paar Tabletten aus unserem Medizinschrank.
Nachdem Biggi die Tabletten geschluckt hatte, ging es ihr schnell wieder besser, und wir fielen uns erleichtert in die Arme.
Jetzt wurde es endlich Zeit, mit dem Auspacken zu beginnen. Unsere Kleidung, Biggis Plüschtiere, meine Hanteln und alles, was wir sonst noch mitgenommen hatten. Nachdem wir das erledigt hatten, waren die Interviews mit zwei der weltgrößten Fernsehanstalten, EURO TV und der M-I-B-A, der "most important broadcasting company of America", an der Reihe.
Während wir cool die Fragen der Journalisten beantworteten, sah ich oft aus dem Fenster, die Sterne zu betrachten und die Schwärze des Alls dazwischen. Die Empfindungen im Angesicht der Unendlichkeit sind absolut unbeschreiblich.
Nach den Interviews gab es endlich Mittagessen. Ich aß ein Trockensteak mit Gurken-Kartoffel-Salat und einem Generation Space-Pils dazu, das ich mit an Bord geschmuggelt hatte. Zum Glück sind die Zeiten des ungenießbaren Weltraumessens inzwischen längst vorbei. Das ganze Menü schmeckte absolut hervorragend.
Nach dem Essen merkten wir dann langsam, dass wir von dem Mäuseversuch abgesehen eigentlich überhaupt nichts zu tun hatten, und die Langeweile wurde allmählich zu einem echten Problem.
Eine Weile versuchten wir noch, uns mit irgendwelchen Routinekontrollen zu beschäftigen, aber lange hielten wir das nicht aus. Bald beherrschte die Langeweile den ganzen Shuttle. Dazu kam auch noch, dass Biggi immer noch nicht ganz auf dem Damm war wegen ihrer Raumkrankheit.
Angeschnallt lag sie auf der Krankenliege und starrte zum Fenster raus.
"Dieses Weltall ist immer gleich." meinte sie deprimiert und ließ sich in der Schwerelosigkeit hängen.
Ich stöberte in der Zwischenzeit im Shuttle herum und fand nach und nach heraus, dass außer unserem Privatgepäck und den Vorräten für die Notversorgung praktisch nichts an Bord war. An unsere Freizeit hatte anscheinend keiner gedacht. Wir hatten kein einziges Spiel mit an Bord, nichts was uns irgendwie die Zeit hätte vertreiben können, nur Berge von Fertigkost, und Biggi war ja auf Diät. Schnell wurden wir immer gereizter und fingen an, uns gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fragte bei der Bodenkontrolle, ob wir noch irgendwas machen könnten, und das war unsere Rettung. Mrs. Greenthumb, die Chefin der Nachrichtenabteilung, wies uns auf ein paar versteckte Möglichkeiten in der Kommunikationsleitung hin, und von da an entspann sich ein fast ununterbrochenes Zwiegespräch zwischen uns, der Bodenkontrolle, unseren Freunden, ein paar staatlichen Fernseh- und Radiosendern und hauptsächlich dem unsäglichen Ritschie, der anscheinend Urlaub und sonst nichts zu tun hatte.
Ende des zweiten Tages entdeckte Biggi dann, wie man die Kommunikationsleitung an kommerzielle Sender koppelte und stellte den Empfänger auf Börsenline. Von da ab hieß es fast nur noch: Prozessor AG halben Punkt rauf, Software Plus halben Punkt runter, Dienstleistungs GMBH halben Punkt rauf...
Mit dem ruhigen Mondflug war es jetzt natürlich endgültig vorbei, denn Biggi war absoluter Börsenprofi. Nach einer kurzen Orientierungsphase spekulierte sie wie verrückt, und ich war auch bald mit dabei.
Nochmal zwei Tage später hatten wir unser Ziel dann endlich erreicht. Lautlos glitt der Shuttle in den Mondorbit. Wir prüften ein letztes Mal alle wichtigen Parameter, dann leiteten wir die Landung ein.
Schnell hatten wir uns der Mondoberfläche bis auf ein paar hundert Meter genähert. Wir trieben direkt auf den Blue Baju-Krater zu, genau so, wie ich es mit meinen Freunden bei der ESA besprochen hatte.
Biggi war in absoluter Hochstimmung. Kein Wunder. Sie hatte an der Börse kräftig abgesahnt, im Gegensatz zu mir. Aber ich war zu der Zeit sowieso schon mit anderen Dingen beschäftigt…
Da deutete Biggi plötzlich aus dem Fenster.
"So ein Zufall, Stefan!" rief sie. "Wir landen genau im Blue Baju-Krater, dem wahrscheinlich romantischsten Platz im bekannten Universum!"
Ich kicherte. "Tja, Zufälle gibt's."
Die Bremsraketen zündeten. Wie in Zeitlupe senkte sich der Shuttle ins Kraterinnere und landete federweich. Ab jetzt hatten wir drei Stunden Zeit für unseren Mondspaziergang.
Der große Moment war gekommen. Die Sonne stieg gerade über den östlichen Kraterrand. Das Spiel von Licht und Schatten auf dem Gestein war überwältigend.
Biggi legte ihre Spezialstiefel an. Ich löste solange die wichtigsten Leitungen und installierte behutsam den Störsender. Jetzt bloß nicht nervös werden, sagte ich mir innerlich immer wieder und checkte zum tausendsten Mal meine Liste:

Tasche
Blumen
Kamera
  Funkkontakt!!.

Die Shuttleluke glitt auf. Ich kletterte als Erster nach draußen und leistete Biggi, die sich mit der Leiter schwer tat, dann Hilfestellung.
"He, nicht grapschen!" rief sie über ihr Helmmikrofon.
Guter Witz, wie sollte ich durch den dicken Anzug durch grapschen können!
Ich wollte aber keinen Streit riskieren, und ließ sie alleine weitermachen. So kam sie am Boden schließlich auch ohne Hilfestellung an.
Wir schlossen uns über die Sicherheitsleine zusammen und nickten uns beide nochmal zu. Wir waren bereit. Auf mein Handzeichen hin gingen wir los.
Doch schon unser erster Schritt hätte fast zu einer Katastrophe geführt. Biggi hatte die Lunargravitation unterschätzt und sich viel zu fest abgestoßen. Wie eine Stumfilm-Rakete schwirrte sie an mir vorüber und hätte mich auch noch mitgerissen, wenn ich mich nicht gerade noch am Shuttle hätte festhalten können. Da Biggi über die Leine mit mir verbunden war, konnte auch sie nun nicht mehr weiter, und sie landete ein paar Meter weiter im Dreck.
Dort blieb sie auf dem Rücken liegen und kam von selbst nicht mehr hoch. Hilflos wie ein Käfer zappelte sie am Boden herum und schrie um Hilfe. Ich rannte ihr hinterher. Sie dann in meinen Moonboots und dem dicken Mondanzug wieder auf die Beine zu kriegen, war gar nicht so einfach. Immerhin aber hatte sie sich nicht weh getan, und ihr Anzug war noch in Ordnung, und so konnten wir weitergehen.
Biggi bekam jetzt schnell den Rhythmus. Nach kurzer Strecke ging sie schon freihändig, und ein paar Schritte weiter fing sie an, wie ein junges Mädchen herumzuhopsen. Durch die geringe Anziehungskraft des Mondes fiel ihr Haar, das unter dem Helm heraushing, bei jedem Schritt wie in Zeitlupe. Es sah aus, wie in einem Liebesfilm.
Ich merkte, wie ich immer nervöser wurde.
Ruhig bleiben, leierte ich innerlich gebetsmühlenartig vor mich hin.
Nachdem wir eine Weile umherspaziert waren, drehte Biggi sich mit einem hinterhältigen Lächeln zu mir um.
"Kann uns die Bodenstation jetzt hören?" fragte sie.
"Ich denk schon." sagte ich vorsichtig.
Da schrie sie auf einmal Ritschies Namen so laut, dass meine Paniksensoren Alarm schlugen. Ein paar Sekunden später klirrte Ritschies nervtötende Stimme dann schon aus unseren Helmlautsprechern:
"Jou, jou, kann dich hören, ugaugauga, bruuaah!!"
Der Blödmann äffte einen Gorilla nach. Biggi musste so lachen, dass sie nochmal hinfiel.
Die beiden redeten mindestens fünf Minuten lang, dann meinte Ritschie, dass er ins Training müsse und schaltete sich ab. Jetzt endlich war mein Moment gekommen.

                                                            Die Mondpleite – Zweiter Teil