Bankman
Ein nicht mehr ganz junger Mountainbiker durchradelt in flottem Tempo ein malerisches Waldgebiet. Das Gehölz liegt in der Nähe des Ferienortes des Mannes, einer schön gelegenen, aber wenig bekannten Gemeinde im vorderen Niederbayern.
Der Radler wirkt gut in Form für sein Alter und zeigt ein kerniges Lächeln, ganz nach Art eines durch und durch gesunden und schneidigen Bewohners der Hochalpen. Interessanterweise gleicht er Willi Bogner dabei in gar nicht geringem Ausmaß. Zufällig möchte der Mann auch, genauso wie Willi Bogner, liebend gerne als junger Mann mal Klavierspielen gelernt haben, hat es aber leider wie Willi Bogner sein Leben lang nicht geschafft. Seine von buschigem Grau durchzogenen Koteletten setzen sich, gleichfalls wie bei Willi Bogner, sympathisch und sportlich wuchernd seitlich von seiner weißen, wie frisch aus der Verpackung geholt wirkenden Baseballmütze ab.
Nachdem der Mann ungefähr fünf Minuten weiter durch die schöne Waldgegend geradelt ist, begegnet er einem blondgelockten, jugendlich und gleichzeitig altersweise wirkenden, dem Verfasser dieses Berichtes erstaunlich ähnelnden, und, es lässt sich nicht anders sagen, gespenstisch gutaussehenden Jogger. Die beiden grüßen sich freundlich.
Der Mann fährt fort, mit gleichmäßigen Kreiselbewegungen seiner kräftigen Schenkel die Pedale zu treten, im Hintergrund entschwindet der schöne Jogger (das Kinn etwa wie Rodins Denker auf die rechte Hand gestützt, ansonsten, von den Haaren abgesehen, Michelangelos David auf ganz verblüffende Weise gleichend) mit federnden Schritten.
Mit einem Blick auf die Waden des Radlers könnte man nun leicht dem Gedanken verfallen, er sei vielleicht auch ein Ex-Skifahrer wie Willi Bogner. Doch liegt man mit dieser Annahme völlig daneben. Der Mann ist astreiner Betriebswirtschaftler, ein ziemlich reicher noch dazu, der es nur zufällig neben seinem wichtigen Job eben auch noch geschafft hat, seinen Körper beispiellos fit zu halten.
Was den Radler zusätzlich interessant macht, ist, dass sein Leben vor ungefähr drei Monaten angefangen hat sich zu verändern. Plötzlich, eines Morgens vor der Kaffeemaschine, hatte er zu grübeln begonnen. Ein Gefühl, als sei in seinem Leben irgendetwas nicht richtig gelaufen, lässt ihn seither nicht mehr los.
Erfolg hat er ja zweifellos gehabt, denkt er sich jetzt oft. Man nehme nur seine drei gut verlaufenen Ehen, dazu die vielen Bekannten und Freunde, das Geld, und seinen stetigen, einer beeindruckend positiven Aktien-Wertsteigerungskurve gleichenden beruflichen Aufstieg. Und doch wird er jetzt, fünf Jahre vor seiner offiziellen Berentung, die Empfindung nicht mehr los, als habe er irgendetwas in seinem Leben verpasst.
Natürlich könnte er jederzeit zu arbeiten aufhören, überlegt er. Aber was soll er dann tun? Nur noch Sport machen? Vor einem Jahr hätte ihm dieser Gedanke noch Spaß gemacht. Er hat ihn an schlechten Tagen oft verwendet, um sich durch die schöne Aussicht daran wieder aufzurichten. Heute würde er es vorziehen, am Ende seines Lebens sagen zu können, auch noch etwas für die Menschen, für die ganze Menschheit getan zu haben. Irgendwas Nützliches, etwas Gutes, etwas, durch das es seinen Mitmenschen und der Natur wieder besser geht.
Indem der Mann so weiterradelt, taucht am Rande des Waldweges eine leicht heruntergekommene Kapelle auf, über deren Eingang in einer kleinen Nische irgendeine weiß angestrichene Plastik-Mutter Gottes aus Fatima, Lourdes oder Altötting steht. Der Mann passiert das Bauwerk, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.
Dann wird er auf ein seitlich der Kapelle liegendes lilafarbenes Häuflein aufmerksam.
Einem plötzlichen inneren Antrieb folgend, hebt er den Kopf und erkennt gerade noch, wie in einigen hundert Metern Entfernung ein mindestens zwanzig Jahre alter Passat Kombi, über die Wurzeln eines abzweigenden Waldwegs holpernd, zwischen den Bäumen verschwindet.
Neugierig geworden, bremst der Radler ab und steigt von seinem pneumatisch noch ein wenig nachfederndem Bike. Da gleitet die lilafarbene Ansammlung, die ihm offenbar gefolgt ist, bereits an ihn heran und legt sich in einer schnellen und völlig unerwarteten Bewegung um sein linkes Bein. Mit einem Gefühl ohnmächtigen Entsetzens stellt der Mann fest, dass die Masse sich anschickt, sein Bein hinaufzuwandern und es gleichzeitig aufzulösen. Der Schock darüber lähmt ihn vollkommen und hält ihn an dem unheimlichen Orte fest. Er muss an ein Gruselcomic denken, das er in seiner Schulzeit gelesen hat. Angsterregende Schmetterlinge nagten darin in einem tiefen, menschenleeren Urwald zwei Forschern immer dann, wenn die beiden gerade schliefen, Teile ihrer Gliedmaßen ab. Das Ganze zog sich über ein paar Tage hin, aber letztlich hatten die Forscher keine Chance dabei.
Im Handumdrehen verendet der Mann. Kurze Zeit später ist sein Skelett vollkommen freigenagt. Bis zu seinem Tode ahnt der Betriebswirtschaftler nicht, dass das lilafarbene Häuflein, welches mittlerweile größer geworden ist, durch das Fressen offenbar wächst, aus Myriaden sich teilender Killermikroben besteht, welche innerhalb von vier Tagen alles höhere Leben auf diesem Planeten vernichten werden.