Sonntag, 29. August 2010

Der junge Dichter

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Der junge Dichter


   Ein neunzehnjähriger junger Mann, dessen bisheriges Leben fast ohne größere Zwischenfälle verlaufen ist, sieht versonnen aus dem Fenster und dichtet.
   Schwer zu sagen, ob der junge Mann dabei glücklich ist oder nicht. Seit einigen Wochen durchdringt ihn ein Gefühl, wie er es an Stärke und Permanenz bis dahin noch nicht erlebt hat. Es ist ihm unmöglich, dieses Gefühl einzuordnen. Es gibt Tage, da erfasst es ihn mit solcher Heftigkeit, dass er daran, so kitschig und abgedroschen das für einen Außenstehenden klingen mag, schier zu verbrennen glaubt. Jenes Gefühl, das den jungen Mann so bewegt, ist die Sehnsucht nach einer Frau, die er nicht erreichen kann.
   Sie geht in einen anderen Abi-Kurs. Er hat Mathe und Physik, sie belegt Englisch und Biologie. Sie treffen sich oft im Vorbeigehen. Sie grüßt meistens freundlich, er möchte jedes Mal laut aufschreien, und bringt doch nie mehr als seinen üblichen Gegengruß zustande. Manchmal bemerkt sie ihn auch nicht, dann trifft sein Gruß nur ins Leere.
   Der junge Mann, er soll Jochen genannt werden, ist vollkommen ratlos. Sie ist das gescheiteste, witzigste und entzückendste Wesen, das er in seinem Leben gesehen hat. Sie ist das schönste Mädchen der Welt. Den Rest der Weiblichkeit an der Schule überstrahlt sie wie eine Sonne die Hundertschaften von grauen Planeten und Felsbrocken, die sie umkreisen. Er möchte schon über den Fußboden schmelzen, wenn er sie von weitem nur irgendwo sieht.
   Sie geht mit Schmilo, einem reichen Typen aus ihrem Kurs. Schmilo ist keine Leuchte. Er kämpft sich seit Jahren gerade noch so durch, das weiß jeder. Er ist aber nicht unsympathisch, die meisten mögen ihn gern, und was den Stil angeht, ist Schmilo dem männlichen Rest an der Schule um Lichtjahre voraus.
   Auch Jochen muss zugeben, dass die beiden ein berührendes Paar abgeben. Sie scheinen sich wirklich und ehrlich zu lieben. In Schmilos Beisein fühlt Jochen sich in seinem niemals aussetzenden Schmachten noch schwächer und verlorener als sonst.
   Es ist jetzt ein paar Wochen her, dass Jochen zufällig angefangen hat, im Homer zu lesen. Der leichte, meereshafte Rhythmus dieser Dichtung überwältigte ihn zu seinem Erstaunen total. Er hatte nicht geahnt, was man mit Rhythmus und Worten allein alles auszudrücken vermag.
   Das Buch ist schwer zu lesen gewesen, und auch wenn er nicht alles darin verstanden hat, er hat doch jede Zeile dieser Erzählung, jedes seltsame Wort dieser altertümlichen Sprache auf die innigste Weise genossen. Die Lektüre hat Fähigkeiten in ihm geweckt, von denen er bis dahin nichts geahnt hatte. Oft begleitet ihn jetzt eine Empfindung, als gingen die Worte, als ginge die Sprache aus allem was er liest und hört direkt in seine Gedanken über, als übernehme die Dichtung schließlich die Steuerung darüber, wie und was er selbst spricht. So ist mit einem Male auch er, ohne es selber zu wollen, zum Dichter geworden.
   An diesem Tage sitzt er, vollgestopft mit den Krapfen seiner Großmutter, eine halb ausgetrunkene Flasche Mineralwasser neben sich, am Schreibtisch seines Zimmers. Er sieht, den Kopf schräg zur Seite geneigt, aus dem Fenster. Dann wendet er sich seinem College-Block zu und schreibt Folgendes auf:

                                   In meinen Träumen
                                   fickte ich dich zwölf Mal.
                                   Wir lagen umschlungen
                                   ich strich dir langsam durchs Haar
                                   du lachtest mit deinem Munde
                                   und warst mein Entzücken
                                   so wunderbar...

   Ein Geräusch lässt ihn inne halten. Den Kopf noch übervoll mit der Vorstellung der geliebten Frau, steht er auf und tritt ans Fenster. Fern über dem Wald steigen majestätisch drei Atompilze in den Frühlingshimmel. Sie müssen schon mehrere Kilometer hoch sein. Jochen erkennt an der Oberfläche der Wolken feinste Details und Konturen, so als wären sie zum Greifen nah. Dann nimmt er wieder kleine, aufwallende Bewegungen an den Atompilzen wahr, und spürt, wie weit weg die Erscheinungen sein müssen.
   Die Gläser des Fensters fangen an zu klirren, der Boden unter Jochens Füßen erbebt leicht. Hinter dem Walde erhebt sich breit und unausweichlich wie in Zeitlupe eine gigantische Feuerwalze. Zu Anfang wirkt sie fast statisch. Dieser Eindruck aber täuscht völlig und rührt von ihrer unvorstellbaren Größe her. Einem Geschoss gleich schnellt die Walze heran, und innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde rollt sie über den jungen Mann, das Haus seiner Vorfahren, seine Hoffnungen und endlich über den ganzen Landstrich hinweg.