Sonntag, 17. Oktober 2010

On the road



On the road


Ein Auto durchquert in rasendem Tempo eine weitläufige Landschaft irgendwo zwischen Linz und Wien. Birken- und nadelbewaldete Flecken ziehen vorüber. Der Blick des Fahrers ist auf die Fahrbahn fixiert. Gerade in diesem Moment steuert er aus einem Waldstück wieder heraus und schießt eine Senke hinab.
Der Mann lächelt kaum sichtbar. Er ist erfüllt von einer wohltuenden Empfindung der Sicherheit und der Zugehörigkeit, die dadurch zustande kommt, dass ihm eingefallen ist, mit welch unglaublicher Geschwindigkeit man heutzutage Länder und Landschaften durchqueren kann. Eine viertel Stunde Vollgas, und man befindet sich in einer völlig anderen Landschaft, eine Stunde weiter, und schon sprechen die Leute tschechisch oder man ist in Ungarn.
Zack zack geht es diesen Morgen. In Sekundenschnelle zieht der Wagen an einer Kette kriechender Lastwagen vorbei, in der Talmulde überholt er einen alten VW-Bus, der mit acht Rumänen an Bord und einem ganzen Hausstand auf dem Dach auf der Standspur dahinzockelt. Schon hat er die ganze weite Autobahn wieder für sich.
Er rauscht über eine Kuppe, und wieder geht es einen Hügel hinab, der in eine weite Ebene ausläuft. Kein einziges Auto bewegt sich dort unten, der eigene Wagen läuft fast wie von selbst. Rechts breitet sich eine neue Waldfläche, überall leuchten daraus die weißen Flecken der Birkenrinde hervor. Links ist wenig zu sehen, nicht mal ein Bach.
Die Gedanken des Fahrers schweifen langsam ab. Es ist eine Landschaft, die irgendwie überhaupt nichts zu bieten hat, denkt der Mann sich. Nur in der Ferne erhebt sich eine größere Ortschaft, in deren Mitte eine kleine unansehnliche Kirche steht. Beim Rest handelt es sich anscheinend um ein einziges Gewerbe- und Neubaugebiet.
Als der Mann sich der Straße wieder zuwendet, steht vor ihm, nur wenige Meter entfernt, fast direkt vor seiner Nase, ein ansehnlicher und kompakter Tanklaster. Er ist weiß, wirkt nicht gerade neu und scheint irgendeiner Behörde anzugehören. Auf der Unterseite des Tanks sind ein paar Rostflecken zu sehen, aus der Oberseite ragt eine flache, rechteckige Öffnung, aus der heraus es beständig dampft. Dem Mann wird nicht eindeutig klar, was der Laster eigentlich transportiert. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber könnte es etwa Teer sein.
Während der Mann über alles das nachdenkt, bewegt sein Auto sich wie in Zeitlupe auf den Tankwagen zu. Die Zeit, um ausweichen zu können, ist längst schon vorbei.
Schon als der Laster mit noch unscharfer Silhouette in sein Sichtfeld eindrang, ist der Mann nur leicht zusammengezuckt. Sofort ist ihm klar gewesen, dass es nun aus sei, und wie hinter einer beschützenden Glaswand lässt er jetzt das weitere auf sich zukommen.
Sein Auto arbeitet sich knirschend und quietschend in die Rückseite des Lasters. Beeindruckt stellt der Mann fest, wie der Aufprall ihn hin- und herschüttelt, wie die eingedrückte Motorhaube und die zerberstende Frontscheibe näher und näher kommen.
Wie wenig sein schwacher Körper dieser unglaublichen Gewalt doch entgegenzusetzen hat! denkt der Mann sich. Wie ein Stück Fett oder Butter drückt es unten seine Schienbeine zur Seite. Als wäre da nichts, stößt das Lenkrad ihm in den Bauchraum. Aber zu welchen Empfindungen dieser Körper auch fähig ist!
Und auch dieses hat der Mann nicht geglaubt: Zu welchen Höhen des Schmerzes, zu welcher Umfassendheit der Wahrnehmung man gelangen kann, wie sehr man mit der Natur und seiner Umwelt verschmelzen kann. Wie sehr er noch mitbekommt, als ihm das Dach seines Autos den Kopf zerdrückt.
Eine Zeitlang stehen der Tankwagen und das Auto wie verlassen auf der Autobahn, dann folgen der VW-Bus und die Kette aus Lastern, die der Mann zuvor überholt hat, und kommen quietschend zum Stehen. Auch der Fahrer des Tankwagens kämpft sich jetzt aus seiner Kabine. Seine Stirn ist blutüberströmt.
Ratlos und etwas blass um die Nase umstehen die Menschen das Autowrack, in dessen Innerem aus winzigen Zwischenräumen der völlig entstellte Körper des Fahrers zu erkennen ist. Plötzlich ist aus dem langgezogenen Waldstück zur rechten Seite der Straße ferner rollender Donner zu vernehmen. Die Menschen sehen sich verdutzt an. Am Himmel ist keine Wolke zu sehen.
Nur einen Moment später blitzt der gesamte Horizont auf, und innerhalb eines einzigen Augenblicks werden die Bäume des Waldstücks zu Boden geknickt, wird die gesamte Landschaft zerstört, verwüstet, wie vom Erdboden ausradiert.