Sonntag, 12. Dezember 2010

Vorweihnachtliche Reflexion




Vorweihnachtliche Reflexion


Einige Tage vor Weihnachten.
Es ist kalt draußen. Gerne würde ich sagen, daß zu meinen Füßen gerade ein Kaminfeuer prasselt, doch ein offener Kamin war beim Neubau unserer Heizung einfach nicht mehr drin. Bei der Winzigkeit meines Schreibzimmers wäre ein derartiger Wunsch wohl auch übertrieben gewesen.
Anders noch unsere Kaminsituation vor dem Krieg. Wenn die Erzählungen meines Großvaters auch nur halbwegs gestimmt haben, dann war der Kamin auf unserem Familiensitz an der Ostsee so groß, daß man darin mit halben Baumstämmen heizen konnte. Die gesamte Datsche, Stallungen, Bootshaus, und was sonst noch an Immobilien dazugehörte, mit inbegriffen, wurde nach dem Krieg von den Russen geschleift, man weiß bis heute nicht, ob absichtlich oder nur durch einen Kommunikationsfehler bei der Armee, wie sie damals ja des öfteren vorkamen. Jedenfalls läßt sich die Behauptung des Großvaters heute vor Ort nicht mehr nachprüfen. Schenkt man den paar erhaltenen Fotos allerdings Glauben, dann hätte der Kamin Citizen Kanes Puzzle-Kamin wohl gediegene Konkurrenz liefern können.
Es müssen rauschende Weihnachtsfeste gewesen sein vor dem Krieg. Die Familie reiste aus ganz Mittel- und Osteuropa an dazu, alle paar Jahre ließ sich auch die Verwandtschaft aus Brasilien blicken. Die diversen Legenden versichern, daß der alljährliche Weihnachtsbaum mindestens sechs oder acht Meter hoch zu sein hatte. Am Schmücken des Baums durften sich alle beteiligen, die gerade vorbeikamen, allerdings erst an Heiligabend zwischen Mittagessen und Nachmittagstee. Da die Männer des Hauses um diese Zeit vornehmlich mit Männerangelegenheiten beschäftigt waren, das heißt mit Nichtstun oder damit, sich zum Rauchen zu verziehen, fiel diese Aufgabe meistens den Kindern, den Frauen und der ohnehin alles überragenden Urgroßmutter zu.
Die Krippe meines Großvaters muß im krassesten Gegensatz zu dem mit böhmischen Glaskugeln, Holz- und Blechschmuck aus dem Erzgebirge und funkelnden Glitzer- und Stanniolgirlanden aus Amerika oder woher auch immer überladenen Baum gestanden haben. Klein war sie, blaß und spartanisch, wahrscheinlich die billigste Massenproduktion, die zur Zeit ihres Erwerbs zu haben gewesen war. Mein Großvater hatte sie in den Zwanzigern von einem Kunden aus Frankfurt bekommen, nachdem er diesen vor dem Bankrott bewahrt hatte. Seitdem hatte die Krippe zu Weihnachten aufgestellt zu werden. Der Rest der Weihnachtsdekoration war dem Großvater gleichgültig. Hauptsache, die Krippe war da. Natürlich war mein Opa nur ein geduldeter Gast in dem Haus, das dem eigentlichen Chef und Plutokraten der Familie, dem großen Onkel gehörte. Trotzdem muß der große Onkel den Spleen mit der Krippe respektiert haben, was aber auch kein großes Opfer bedeutete. Die Krippe des Opas hatte ihren Platz neben der Treppe, wo sich eine selten benützte Garderobe befand, während direkt beim Weihnachtsbaum die eigentliche, vermutlich gartenlaubengroße Krippe des Hauses stand.
Irgendwie hatte der Großvater es später geschafft, die Krippe über den Krieg zu retten. Die großen Familientreffen gab es nach dem Krieg dann zwar nicht mehr (die Verwandtschaft brach im Verlauf der Nazi-Diktatur in alle damals vorstellbaren Richtungen auseinander), die Krippe aber ist unsere Weihnachtskonstante bis zum heutigen Tag geblieben. Dabei hatte sich die Familie, von Ausnahmen abgesehen, auch vor dem Krieg schon lange von inbrünstiger Religiosität gelöst. Ohne dies bewerten zu wollen. Aber seit den Tagen des großen Aufklärers Kai-Johann Friedrich Nepomuk von Rosenstock-Bono hatte die Religion ihren Platz als bestimmende Kraft im Großfamilienleben eingebüßt.


Dies nur einmal kurz eingeschoben: Feiern wir nicht an Weihnachten die Geburt dessen, der uns aus all der Weltlichkeit und bewußten Sündhaftigkeit hätte raushauen sollen? Doch entschuldigen Sie. So weit wollen wir in unseren Festtagsgedanken natürlich nicht gehen, denn schließlich wollen wir ja gar nicht erlöst werden. Erst wenn es an der Zeit ist, tatsächlich sein Säckel zu packen, dann muß es ganz schnell gehen mit der Erlösung, nicht wahr, dann pressiert es, denn irgendwie soll es ja auch danach schließlich mit der Weltlichkeit noch weitergehen!


Meine größere Tochter hat heute Geburtstag. Der einzige Wunsch, den sie seit Wochen zu diesem Thema vorbringt, ist, die Krippe nicht erst am Vierundzwanzigsten, sondern schon heute aufstellen zu dürfen. Was wir ihr dann auch erlaubt haben. Allerdings nur für dieses Jahr. Wobei die Einhaltung dieser Bedingung kein Problem werden dürfte, da ihr bis zum nächsten Dezember Krippen vermutlich völlig egal sein, und Körperpiercings, Klamotten zu unerschwinglichen Preisen sowie unbekleidete Synchrontänzer mit Stimmen, die Kraftwerk noch mühselig mit Vocodern und schrankgroßen Röhrensequenzern erzeugen mußten, deren Platz eingenommen haben werden.
Die beiden Engel, die vom Dach des inzwischen einsturzgefährdeten Krippengebäudes herunterhängen, der eine blaßgrün, der andere blaßrosa, halten ein Transparent in Händen, auf dem ursprünglich die Verheißung "Der Heiland ist nah!" stand. Ein Teil des Transparents ist vor ein paareinhalb Jahrzehnten weggebrochen und irgendwo im Labor meines damaligen Sandkastens verschütt gegangen. Seither ist nur noch den Slogan "Der Heila-" zu lesen.

Was nun aber, wenn es nicht hieße, der Heiland, sondern das Ende sei nah?
Es liefe am Ende wohl auf dasselbe hinaus. In Demut sollte man das Anrücken Jesu und der himmlischen Heerscharen erwarten, alles tun eben, wenn es soweit ist, ein gutes Leben gelebt zu haben.
Und dann?
In dem Liede "Dein Wille, oh Herr" heißt es schlichterweis: "Mir geschehe nach Deinem Wort"...