Early work, entstanden um '99 herum. Der auftauchende Odysseus war ursprünglich Jesus, wenn ich mich recht entsinne, und wurde dann mit schlechtem Gewissen entfernt.
Gottes Finger
Groß sind die Taten der Menschen, und ohne Zahl die Gesänge, die jene besingen!
Betrachten wir nur einmal den lauen Augustabend des Jahres 20XX, an dem es den Erfindern Trepswill und Melo Schaukelberg auf beispielhafte Weise gelang, der menschlichen Erkenntnis zu einem weiteren, vielleicht sogar zum entscheidenden Schritt nach vorne zu verhelfen.
An diesem Augustabend testeten die beiden vielversprechenden, angehenden Ingenieure in ihrem kleinen Neuperlacher Hochhausappartement zum ersten Mal ein Gerät, das die beiden zuvor aus bescheidenen Mitteln und ohne jede Hilfe von außen konstruiert hatten, den legendären Praeteriter-Projektomaten, den ersten Projektor in die Vergangenheit von Zeit und Raum.
Die Geschichte dieser denkwürdigen Erfindung ist schnell erzählt. Sie fing an mit einem langweiligen Nachrichtentechnikpraktikum. Wichtig waren überdies ein paar Stunden in der Universitätscafeteria, eine zerfetzte alte Spiegel-Ausgabe mit einem Kommentar von Rudolf Augstein und eine ramponierte Fernsehröre, die der Großvater den beiden Erfindern vermacht hatte. Es kostete die beiden Erfinder nicht einmal einen Tag, um aus der Idee ein tragfähiges Konzept zu gestalten, die Ausführung des Plans bedeutete schließlich nur noch drei Monate Tüftelei.
Dadurch, dass er der Menschheit auch die letzte Illusion über sich selbst nahm, beeinflusste der Vergangenheitsprojektor das heutige Menschenbild auf nachhaltige Weise. Erst dieser Apparat machte es dem Menschen möglich, festzustellen, wie jeder beliebige Augenblick der Geschichte tatsächlich stattfand. Die reife und aufgeklärte Menschensicht der heutigen Zeit wäre einfach undenkbar ohne die Möglichkeiten des Vergangenheitsprojektors.
Jener laue Augustabend in Neuperlach, an dem die beiden Erfinder ihren Praeteriter-Projektomaten zum ersten Mal testeten, fand Eingang in die menschliche Geistesbildung. Die Ereignisse dieses Abends, an welchem die beiden Brüder sich aufmachten, die letzten Geheimnisse der Menschheit und des Universums zu erschließen, sind allgemein bekannt, und zahllos sind die Künstler, die sich an deren Interpretation versuchten. Am bekanntesten vielleicht ist die umstrittene Landshuter Inszenierung des alt-symbolistischen Dramatikers Giorgio Schwarzenbeck, dessen endgültige Skriptfassung hier nun in einer hervorragend edierten Neuauflage vorliegt:
Der Ort:
Neuperlach, ein typisches Hochhaus der Bauperiode 20XX – 20XX.
Wir befinden uns im siebten Stock, in der Wohnung der Zwillinge Will und Melo Schaukelberg. Es ist Nacht und durch die staubigen Fenster dringt nichts als die verheißungsvolle Dunkelheit der Nacht und das Blinken einiger, weniger Sterne. Die Wohnung ist unaufgeräumt. Über den Boden verstreut liegen Teile von Glasfaserkabeln, Hochleistungschips, haufenweise Geschichtsbücher und ausgeschlachtete Computerplatinen.
Zentral in der Mitte des 30-Quadratmeterraumes steht ein schwerer, handbehauener Eichentisch, worauf wiederum ein großer, grauer, angerosteter Blechkasten und darauf eine alte 22-Zoll-Fernsehröhre stehen. Vor dem Tisch aufgestellt zwei beigefarbene Leinen/Fichte-Regiestühle, der linke mit Willi, der rechte mit Melo beschriftet. Melo fläzt sich in seinem Stuhl, während Will sich, am Tische stehend, mit dem Projektomaten beschäftigt. Beide sind etwa 1,60 Meter groß, Mitte 20, tragen weiße Schnauzbärte, braune Cordhosen und raue weiße Baumwollhemden. Ihre zerrauften, weißen Kopfhaare stehen in alle Richtungen davon.
Die letzten 38 Stunden haben sie ohne Pause in Wechselschichten durchgearbeitet, nun sitzen und stehen sie vor dem vollendeten Meisterstück. Beide stehen sie vor einer Frage…
WILL dreht mit dem Fingernagel eine Schraube am Blechkasten fest So, fertig atmet durch Du, Melo, das ist schon ein tolles Gefühl, was?
Sein Blick fällt auf eine am Boden herumliegende Geige. Er bückt sich, hebt sie vorsichtig hoch und legt sie auf den Tisch.
Melo streckt seine Zunge weit nach unten.
MELO gähnt Ja, aber ich hab’ Hunger, Willi.
WILL Willst du’s nicht erst ausprobieren?
MELO Nee, also, du, ich muß erst mal was essen.
WILL Na schön, wie du meinst.
Melo erhebt sich mit knackenden Gelenken aus seinem Stuhl und die beiden schlurfen gähnend und sich streckend zum Nebenraum, der nicht sichtbaren Küche, worin sie verschwinden.
Fünf Minuten später:
Will und Melo erscheinen im Türrahmen zur Küche, beide mit angebissenen Käse-Mortadellasemmeln in ihren Händen. Sie schlurfen zurück zu ihren Stühlen.
WILL während er, seine Semmeln balancierend, Zentraleinheit und Fernsehröhre einschaltet, mit vollem Mund Wie willst du’s denn nennen?
MELO setzt sich Wie wär’s mit -ähm- Präteriter-Projektomat?
Flimmernd springt die Fernsehröhre an.
WILL setzt sich Hört sich gut an.
PROJEKTOMAT Hierr bin ich!
Auf dem Fernsehschirm erscheint eine Parklandschaft bei Nacht
MELO Das ist der Münchener Englische Garten.
WILL Ja, soweit ist alles in Ordnung.
MELO Na, dann mal los. Computer!
PROJEKTOMAT Mein Herr?
MELO Wie sieht’s aus, stimmt die Software jetzt?
PROJEKTOMAT Ja, Herr, mein Programm für Vergangenheitsbewältigung ist nun lauffähig. Danke der Nachfrage.
MELO Du kannst uns also überall hinbringen?
PROJEKTOMAT Mein Generalsucher findet jeden Punkt der Vergangenheit. Ob dazu nur eine zeitliche oder auch eine räumliche Verschiebung notwendig ist, macht dabei keinen Unterschied.
MELO Willi, du bist ein Genie!
PROJEKTOMAT Meine Herren, ich stehe ihnen mit zwei Varianten meines Programms zur Verfügung. Wünschen sie einen besonderen, in der Vergangenheit liegenden Punkt mitzuerleben, oder eine Zeitreise per Zufallsgenerator?
MELO In der Vergangenheit liegender Punkt? Hört sich nicht schlecht an, Mann.
WILL Also, bevor du jetzt gleich wieder mit Beckenbauer kommst, würde ich vorschlagen, erst mal den Zufallsgenerator.
MELO He, hast du etwa was gegen den Kaiser!
WILL Ich hab nicht nur was gegen den Kaiser, er geht mir unglaublich auf die Nerven!
PROJEKTOMAT Sie sind sich also einig, meine Herren! Eine Reise per Zufallsgenerator. Ich denke, dies kann der Stimmung hier im Raume nur ein Gutes tun.
MELO Ist ja gut, dann in Gottes Namen eben ‘ne Zufallszeitreise!
PROJEKTOMAT Sehr wohl. Ihre Einsicht, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, zeugt von ihrer Vernunft, Herr von Schaukelberg.
Das Fernsehbild verändert sich plötzlich. Die Parklandschaft verschwindet. Flirrende Zeitbilder, collagenhaft, wild, unglaublich stark in ihrer kreativen Wirkung. Will und Melo machen es sich in ihren Stühlen gemütlich.
PROJEKTOMAT Leimen, 1983.
MELO He, Boris Becker als Schuljunge!
BORIS BECKER Schau, Günther, ich hab ‘ne Blase am großen Zeh.
GÜNTHER BOSCH sonnt sich im Liegestuhl, trinkt mit seiner Freundin gerade einen Manhattan Und, soll ich jetzt pusten, oder was?
BORIS BECKER wendet sich mit hängendem Kopfe ab Nein, Günther...
Das Fernsehbild ändert sich erneut. Flirrende Zeitbilder, collagenhaft, wild, unglaublich stark in ihrer kreativen Wirkung.
PROJEKTOMAT 1910!
WILL Was ist das? Ein Typ auf dem Bett. Liest seufzend ein Buch.
PROJEKTOMAT Adolf Hitler liest einen Schundroman.
MELO Mm, daf ifp Hipler!
Die Brüder essen ihre Semmeln nun wie in Zeitraffer, ebenso bewegen sich die Bilder auf dem Fernsehschirm mit hoher Geschwindigkeit immer tiefer in die Vergangenheit. Während sie ihre letzten Bissen schlucken, bewegen sie sich mit einem Ruck wieder in Normalgeschwindigkeit weiter. Auf dem Schirm ist eine karge, hügelige Landschaft zu sehen.
MELO Und was ist das? Ein Hügel oder was?
PROJEKTOMAT In wenigen Sekunden tritt der Odysseus, erfindungsreich und mit nervichten Armen, hinter dem Hügel rechts vorne hervor.
WILL Mm, erfindungsreich.
MELO Yeah, nervichte Arme!
Das Bild ändert sich erneut. Flirrende Zeitbilder, collagenhaft, wild, unglaublich stark in ihrer kreativen Wirkung.
MELO Das Meer.
PROJEKTOMAT Die Sündflut.
WILL Wow. So viel Wasser.
MELO Ja, gut, die Sintflut also, aber weißt du Willi, was ich jetzt mal sehen will?
WILL Also, wenn du jetzt mit Becken-
MELO Nein, nix Kaiser, Willi, ich will den Anfang.
WILL Den Anfang von was?
MELO Den Anfang von allem...
WILL Des Universums?
MELO Ich will den Urknall, Mann!
WILL Wow, knifflig.
PROJEKTOMAT Ich verstehe…
Wieder verändert sich das Bild auf dem Fernsehschirm, doch diesmal ist das Tempo rasend. Plötzlich wird das Bild schwarz, es ist das All, anfangs noch ferne zu sehen, die Sterne, und die urzeitlich rotglühende Erde am linken Rand. Dann verschwimmt alles in gelbglühend-dickflüssigen Nebeln. Plötzlich ziehen die Nebel sich zusammen, bilden schließlich einen winzigen lila Punkt, ein Schatten erscheint, dann herrscht völlige Dunkelheit.
PROJEKTOMAT Meine Herren, hier enden Zeit und Raum, und hier endet mein Programm. Im Nichts besitze ich keine Fähigkeiten.
MELO He, halt, das kann doch nicht alles sein.
PROJEKTOMAT Mein Herr, es war der Urknall, was wollen sie mehr?
MELO Na, ich weiß auch nicht, irgendwas Großartiges.
WILL Hast du den Schatten gesehen?
MELO Was für einen Schatten?
WILL Na, kurz vor dem Urknall.
MELO Ich hab nichts gesehen.
WILL Computer, nochmal vor, bis einen Moment vor dem Urknall, und dann in Zeitlupe zurück.
PROJEKTOMAT Einen Augenblick.
Kurz erscheint ein Schatten auf dem Bildschirm, dann ein winziger lila Punkt, der sich blitzschnell expandiert, dann stoppt das Bild. Der Punkt zieht sich langsam wieder zusammen, bis er von neuem winzig klein ist, ein großer Zeigefinger taucht auf, der auf den Punkt deutet.
WILL UND MELO Halt! Stop! Anhalten!
Das Bild hält an. Der Punkt ist zu sehen, dazu der Zeigefinger, so lang wie der halbe Bildschirm, seine drei Glieder schön ausgebildet, endend mit einem glatten Schnitt im Grundgelenk, der Fingernagel wirkt sehr gepflegt.
MELO Mist, verdammter...
WILL Das ist Gottes Finger, Mann.
MELO Du hast recht.
WILL Und weißt du, was das bedeutet?
MELO Er muss riesig sein!
WILL Weißt du, was das heißt?
MELO Computer, wie groß ist dieser Finger!
PROJEKTOMAT Um es plastisch auszudrücken, mein Herr, der Fingernagel ist so breit wie die doppelte Strecke zwischen Milchstraße und dem größeren der beiden Magellan-Nebel.
MELO Das ist gewaltig!
WILL Aber weißt du, was das bedeutet, Melo?
MELO Schitt, keine Ahnung. Dass Gott nur einen Finger hat, oder was?
WILL Nein, das ist der Beweis.
MELO Was, wofür?
WILL Dass Gott - der Anfang - von allem ist!!
MELO Mensch, du hast recht. Da-das ist die Antwort...
BEIDE feierlich Die Antwort aller Fragen.
Für einige Momente betrachten die beiden Gottes Finger.
MELO erhebt sich mit knackenden Kniegelenken Ich sag dir was, Willi. Die nächste Flasche sauf ich auf den Riesenfinger, auf ex.
FINIS