Mittwoch, 28. September 2011

Da kommen die Menschen II



Viert-umfangreichstes Stück aus "Das Ende der Menschheit - Ein Märchenbuch".


Da kommen die Menschen II
(Melancholium in zwölf Szenen)


Die Szen' ist Drella, ein winziger Planet irgendwo zwischen Kepheus und Andromeda, Lichtjahre von der Erde entfernt und letzter Zufluchtsort der unabhängigen Menschheit.


Erste Szene

Es wird Abend auf Drella, und die gerade untergehende Sonne taucht Hortulus Ceris, den am stärksten besiedelten Teil des Planeten, in ein sanftes grünliches Licht. Die Atmosphäre ist dabei, wie stets auf Drella, von einer beinahe leuchtenden und tief bewegenden Klarheit.

Wir befinden am Rande eines Pinienwäldchens, einige Kilometer außerhalb der Hauptstadt Drellapolis,. Ein Lagerfeuer ist zu erkennen, um das Feuer herum tagt das vierunddreißig Köpfe zählende Drellianische Parlament.
                        
John Bobi, ein älterer Herr, mit kleinem Kopf und wenigen grauen Haaren, steht als Gouverneur und Regierungschef des Asteroiden der Veranstaltung vor. Leger in T-Shirt und ausgewaschene Shorts gekleidet, steht der schlanke, fast schmächtige Mann auf einem kleinen Podest vor der Versammlung, und leitet die Debatte mit ruhigen und gemessenen Worten.

Links von Bobi sitzt Helen, seine Frau, eine elegante Blondine etwa gleichen Alters mit mächtig auftoupierter Frisur, an einem Tischlein und protokolliert mit gewissenhafter Befriedigung alles im Parlament Gesprochene auf einem elektronischen Schreibtablett mit.
                                        
Idyllisch und von schlichter Heiterkeit erfüllt wirkt die Sitzung des locker auf Campinghocker, Holzkisten und Klappstühle verteilten Parlaments, indessen erfasst dieser Eindruck die allgemeine Stimmung nicht ganz. Ist doch bei aller Ungezwungenheit auch eine gewisse Anspannung zu spüren. Zwei neue Flüchtlinge von der Erde werden erwartet, und seit dem Notruf der beiden vor einigen Tagen hat man nichts mehr von ihnen gehört.

Die Abgeordneten diskutieren, ob Suchraumschiffe ausgesandt werden sollen. Die Mehrheit begünstigt diesen Vorschlag mit dem Argument, dass man dann, was immer passiert, gleich reagieren könne, einige wenige lehnen den Vorschlag ab, zum einen aus Energiespargründen, zum andern, weil man von den Raumschiffen aus weniger sehe als mit dem Teleskop, und weil man von Drella aus genauso schnell reagieren könne.

Fort und fort geht die Debatte und lässt Zeit für einen weiteren Blick auf die Umgebung des nahen Wäldchens…

Auf der anderen Seite des Lagerfeuers, nur ein paar Meter entfernt, breitet sich ein staubiger Fußballplatz, dahinter ragt ein ramponiert wirkender und wahrscheinlich bereits von diversen Meteoriten und Volley-Abnahmen getroffener, etwa fünfzig Meter hoher Aussichtsturm in den Himmel. Das dem Ansehen nach aus den verschiedensten Metallteilen zusammengeschraubte Bauwerk glänzt schlicht und schlank und kahl im drellianischen Abendschein, und nur zwei Dinge unterbrechen seine stabartig-verbogene Form, am Boden ein Aufzugkorb und ein im oberen Viertel an Stahlseilen befestigtes Krähennest.

Aus dem Krähennest spitzt ein wuchtiges Fünfundachtzig Zoll-Teleskop hervor, dahinter kauert, bewegungslos scheinbar, ein junger Mann, der, ein Auge am Okular, das nähere Umfeld des Asteroiden sondiert.

Der Meinungsaustausch ist gerade dabei, in die dritte Runde zu gehen, als im Sichtfeld des Teleskops ein blinkender und rasch größer werdender Lichtpunkt auftaucht.
Der Ausguck, ein aufgeweckt wirkender junger Mann mit Slacks und Schiebermütze auf dem Kopf, stürzt ans Geländer des Krähennests, schwingt sich dabei so weit darüber hinaus, dass er fast vornüberkippt, und schreit mit sich überschlagender Stimme nach unten:
"Unbekanntes Flugobjekt! Unbekanntes Flugobjekt!"
Die Blicke der Menschen am Lagerfeuer schnellen zum Ausguck hoch. John Bobi winkt dem Jungen zum Zeichen, dass er verstanden hat, und tippt eine Nummer auf seinem Handy.
"Ullo," spricht er kurz darauf in das Telefon, "die Neuen sind aufgetaucht."
"Okay, ich bin in zwei Minuten bei euch." antwortet Ullo, ein Mann im ölverschmierten Mechanikeroverall, der im Innern einer Autowerkstatt steht, in seine Videofunkanlage und wirft den Schraubenschlüssel in seiner anderen Hand in einen herumstehenden Werkzeugkasten, schwingt sich in das Mondauto, an dem er gerade gewerkelt hat, und gibt Gas. Rasselnd öffnet sich das Tor der Werkstatt, und mit aufheulendem Elektromotor rauscht das Gefährt auf eine von Drellas staubigen Landstraßen hinaus.
Über Stock und Stein hüpft das Mondauto mit seinen breiten, geländegängigen Reifen, während sich in der Ferne Aussichtsturm, Lagerfeuer und Fußballplatz bereits nähern.
Quietschend hält Ullo hinter dem Aussichtsturm, aufgeregt und wild durcheinanderredend nehmen die Parlamentsmitglieder den Mechaniker in Empfang.
Ullo springt aus dem Auto.
"Was ist los?" fragt er. "Habt ihr schon gesehen, wie's aussieht?"
"Nein, wir waren noch nicht oben." erwidert John Bobi.
"Na, dann los!" meint Ullo und marschiert zielstrebig in Richtung Turm.
Ullo, die Bobis und einige weitere Drellianer betreten den mit offener Gitterdraht-Tür zu Füßen des Turms bereit stehenden Aufzugskorb.
Der Mechaniker drückt einen langen, abgestoßenen und unförmigen Hebel, dem Aussehen und seiner Beschriftung nach früher auf Erden mal Ganghebel eines Lasters von MAN, vermutlich des 14000 PS-Modells, nach unten.
Sofort setzt der Aufzugskorb sich in Bewegung und gleitet rumpelnd, und ohne dass zu erkennen wäre, wie er sich dabei festhält, möglicherweise mithilfe eines Magneten, den Körper des Aussichtsturms hoch in Richtung des Krähennests.
Oben schraubt der Ausguck noch einmal die Position des Teleskops fest. Dann macht er Ullo beflissen Platz.
"Raumbuggy vom Singh-Typ." stellt Ullo fest, sein linkes Auge über dem Okular. "Ionen-Solar-Hybrid, ziemlich demoliert, schlingert stark, scheint seinen Kurs nicht mehr unter Kontrolle zu haben."
John Bobi ergreift das Mikrofon des neben dem Teleskop stehenden Funkgeräts, hält es sich vor den Mund und beginnt mit erhobener Stimme zu sprechen.
"Hallo, hier spricht Drella! Könnt ihr uns hören?"
 Doch die Lautsprecher zeigen keine Reaktion. Sie geben nur den Dauersoundtrack aller drellianischen Funkgeräte wider, das beständige Hintergrundrauschen des Alls.
Um dennoch allen Unwägbarkeiten vorzubeugen, beschließt man, den drellianischen  Richtstrahl auszusenden.
Die dafür benötigte Apparatur steht im Maschinenpark vor Ullos Garage. Ullo, mittlerweile wieder zu Hause, bedient sie zusammen mit zwei anderen Mechanikern.
Die Maschine läuft an, und mächtig gleißt der von ihr erzeugte, blendend weiße Strahl ins Weltall hinaus.
In dem Moment, da der Strahl es erreicht, leuchtet das torkelnde Raumschiff hell auf, von da an geleitet der Strahl es sicher gen Drella.


Zweite Szene

Scheppernd landet das Raumschiff einige hundert Meter hinter dem Aussichtsturm im Dreck. Im Pulk eilen die Drellianer darauf zu.
Einige beklemmende Sekunden lang liegt das Raumschiff vollkommen still. Dann ist hinter dem Eingangsschott ein leises Scharren zu vernehmen, kurz darauf klappt es plötzlich krachend und in einer einzigen schnellen Bewegung zu Boden.
In der entstandenen Öffnung erscheinen zaghaft die Köpfe eines Mannes und einer Frau.
 "Humanoide!" ruft ein Mann in der Menge. Die Drellianer brechen in lauten Jubel aus.
 Ein wenig ungeschickt klettern die beiden Neuankömmlinge aus der Öffnung hervor und staksen über das verbogene Eingangsschott. Diensteifrig eilen ihnen einige Parlamentsmitglieder zu Hilfe. Schließlich erreichen die beiden, noch etwas wackelig auf den Beinen, den Boden.
Die Frau, eine beeindruckend gut gebaute, nicht mehr ganz junge Blondine, stellt sich als Simone vor, der Mann, ein dürrer, gereizt wirkender Mensch mit langen, dünnen, nach hinten gekämmten Haaren und einem aufwendig zusammenrasierten Bartmuster, das aus den verschiedensten Geraden, Schrägen, Kreisen, Ellipsen und Tangenten besteht, als Hishutoki.
Neugierig werden die beiden von den Drellianern bestaunt. John und Helen Bobi gehen gut gelaunt auf die beiden zu und stellen sich ihrerseits vor.
"Hi, ich bin John Bobi, Gouverneur auf diesem bescheidenen Fleckchen Erde."
"Hi, mein Name ist Helen Bobi. John und ich sind verheiratet."
"Hishutoki, Simone." sagen die Neuankömmlinge noch einmal, und geben den Bobis zögernd die Hand.
Auch die übrigen Drellianer rücken jetzt näher, und dringen mit hastigen Fragen auf die beiden ein.
"Ist die Antarktis schon abgeschmolzen?", "Wer ist Weltmeister geworden?", "Was ist mit Australien?", "Wisst ihr zufällig, wie's Sandra und Kevin Schwiefelspfütz in Dielheim geht?", "Das ist in der Nähe von Heidelberg!" schallt es gleichzeitig aus der Menge heraus.
Erschrocken weichen Hishutoki und Simone zurück.
"Jetzt lasst sie doch erst mal richtig Luft holen!" lacht Helen Bobi und stellt sich schützend vor die beiden hin.
Folgsam und überrascht von ihrer eigenen Bedrohlichkeit entfernen die Drellianer sich wieder einige Schritte.
Im Schutz Helen Bobis tritt Hishutoki nun vor und sieht sich grimmig und mit einem Anflug von Verachtung in den Gesichtern der Umstehenden um.
"Ich bring euch nur schlechte Nachrichten, Leute." sagt er dann und lässt sich seine folgenden Ausführungen in einer Art von schmerzvollem Genuss auf der Zunge zergehen. "Die Erde könnt ihr komplett vergessen. Die Körper-Ersatzquote ist auf über achtzig Prozent inzwischen. Die letzte WM ist ausgefallen, weil man keine Fußballmannschaften mit unter sechzig Prozent mehr zusammenbringt. Der Schnitt hat mehr Elektronenhirne als normale. Nachwuchs darf man bloß noch mit Sondergenehmigung produzieren, und wenn, dann auch bloß in den Brutkästen in der Hominidenzentrale in Peking. Das ist der letzte Platz, der übrig ist. Amerika, Australien, Europa und der größte Teil Asiens sind schon weg. Was in Afrika los ist, weiß keiner."
Entsetzt starren die Drellianer Hishutoki an.
"Also auch Afrika." bemerkt eine etwas sentimental wirkende ältere Dame im Jogginganzug.
"So sieht's aus." fährt Hishutoki unerbittlich fort. "Den Laden könnt ihr vergessen. Für die Menschheit hat sich die Erde erledigt!"
Ein betroffenes Schweigen entsteht.

  John Bobi, der als Erster die Fassung wieder gewinnt, erinnert daran, dass das zu erwarten gewesen sei. Schließlich seien sie alle nicht ohne Grund hierhergekommen.

In schweigender Zustimmung nicken die Drellianer, und man begibt sich wie auf ein Zeichen hin zum Lagerfeuer zurück, um welches herum man sich sitzend verteilt.
Aus vollen Trägern werden Öko-Pfandflaschen mit Bier ausgegeben.
Hishutoki nimmt einen tiefen Zug aus seiner Flasche.
"Ah - das hat mir gefehlt!" seufzt er erleichtert.
"Vielleicht auch ein bisschen Bush-Tucker gefällig?" ruft John Bobi vom Grill, der in der Nähe des Feuers steht, herüber, und hält eines der darauf brutzelnden Fleischstücke in die Höhe.
Stutzend setzt Hishutoki seine Flasche ab.
"Bush-was?" fragt er.
"Bush-Tucker. Was zu essen." erklärt Helen Bobi, die sich zwischen die Neuankömmlingen gesetzt hat, lachend. "Wir haben noch ein paar Antilopensteaks auf dem Grill."
"Du meinst, hier gibt's Antilopen?" staunt Simone.
"Ja, Antilopen züchten hier am besten." meldet John Bobi sich wieder. "Besser als Rinder, Schweine oder Buntbarsche. Und ihr Fleisch ist super-bekömmlich!"
Die übrigen Drellianer pflichten dem Konsul enthusiastisch bei. Ein langer dünner Kerl mit einer fragwürdig modischen Mischung aus Sombrero und Zylinder auf dem Kopf baut sich sogar demonstrativ ein Sandwich aus einem Baguette und einem der Fleischstücke und beißt herzhaft hinein. Alle Anwesenden stimmen lachend mit ein, und schon hat man Hishutoki und Simone, die ohnehin ausgehungert sind, zu einer Kostprobe überredet.


Dritte Szene

Nachdem die Neuankömmlinge genüsslich einige Sandwiches verdrückt haben, stimmen sie einer Einladung der Bobis für eine kurze Besichtigungstour bereitwillig zu.
Es ist mittlerweile fast Nacht auf dem Asteroiden geworden. Am Horizont, im letzten Grünschimmer der bereits untergegangenen Sonne, taucht lautlos Ullo am Steuer eines Schwebetransporters auf. Rasch nähert sich das Fahrzeug und kommt vor den Parlamentariern und ihren Gästen zum Stehen.
Der Schwebetransporter ist rot lackiert, ohne Verdeck, und seine roh gezimmerten Sitzbänke besitzen nach Art von Pritschen keinerlei Polsterung. Alles in allem gleicht es ein wenig einem einstöckigen Sightseeing-Bus, von der Art, wie sie in grauer Vorzeit gerne in den Großstädten der Erde verwendet wurden.
Die Bobis und die beiden Neuankömmlinge nehmen auf der Sitzbank direkt hinter dem Fahrer Platz. Eine Handvoll Drellianer folgt dem Beispiel der vier und setzt sich auf die hinteren Bänke. Der Rest verabschiedet sich, und macht sich mit seinen kleinen Gleitern, Elektro-Bikes, elektrischen Pferden und Mondautos, die alle in der Nähe des Lagerfeuers geparkt stehen, auf die Reise nach Hause.
Kurz darauf überquert der Schwebetransporter eine schmale Ebene, die vornehmlich mit dürrem Steppengras und vereinzelten flaschenartigen Baobab-Bäumen bewachsen ist. Nirgends ist ein Mucks zu hören. John Bobi hat begonnen, seinen Gästen die drellianische Versorgungssituation darzulegen.
"Nahrung und Wasser betreffend," erklärt er, "herrschen auf Drella die besten Voraussetzungen. Wir könnten von einem Tag auf den andern genug für ein paar hunderttausend Leute produzieren. Zur Zeit leben ungefähr fünfhundert Menschen hier, zusammen mit unseren Nutztieren sind wir zweitausend, mit unseren Haustieren neunzehntausend. Was uns Menschen betrifft, ist das nicht gerade ein komfortabler Genpool bis jetzt, aber mehr war unter den Umständen, die bei unserer Flucht vorherrschten, einfach nicht drin."
"Habt ihr denn keine Samenbank mitgenommen?" fragt Simone.
John Bobi lacht und kommt Simone ein Stückchen näher. Plötzlich setzt er eine Verschwörermiene auf.
"Pass bloß auf, du. Das ist ein heikles Thema." flüstert er, und legt seine rechte Hand auf Simones Oberschenkel. "Ich kann jetzt schlecht darüber sprechen. Die meisten Drellianer lehnen künstliche Befruchtung vehement ab. Wenn Zeugung mit herkömmlichen Mitteln nicht möglich ist, dann gilt das für die für so was wie ein Zeichen von oben – oder von unten, wie man's halt versteht. Außerdem sind die meisten Drellianer bekennend religiös. Fast das Gegenteil zur Situation auf der Erde."
Die Drellianer auf den hinteren Sitzen des Transporters sehen sich unterdessen nichtsahnend in der Landschaft und am inzwischen nächtlich sternenunübersäten Himmel um, ebenso Bobis Frau Helen, die neben Hishutoki sitzt, und gerade staunend feststellt, dass zwischen den Wurzeln eines gewaltigen Baobab-Baums der lila Huflattich zu blühen begonnen hat.
Simone lässt John Bobis Hand einen Tick zu lange auf ihrem Oberschenkel liegen, und schiebt sie dann, nicht ohne einen ermutigenden Blick hinzugefügt zu haben, wieder weg. Und auch Hishutoki, dem links von John Bobi nichts von dem gerade Geschehenen entgangen ist, nickt dem Konsul billigend zu.
"Um aber zur Versorgungsfrage zurück zu kommen," wendet Bobi sich nun wieder an alle, "mit den Rohstoffen müssen sich auf einem so kleinen Himmelskörper natürlich früher oder später Probleme ergeben. Aber mit ein bisschen Köpfchen lassen sich ja schließlich so gut wie alle Probleme lösen. Außerdem haben wir gute Aussichten, dass wir unser großes Raumschiff wieder flott kriegen, so dass wir bald die benachbarten Planetensysteme abgrasen werden können. Das nächste ist nur zweieinhalb Lichtjahre entfernt."


Vierte Szene

Noch immer auf dem Schwebetransporter unterwegs, krümmt Hishutoki sich plötzlich zusammen und hält sich stöhnend den Bauch.
"Scheiße, ist mir schlecht!" presst er gerade noch zwischen gefletschten Zähnen hervor.
Sofort gehen die Blicke der Drellianer zum Himmel hoch, wo sich jetzt flatternd eine riesige, bläulich-transparente Erscheinung breitet, einem Nordlicht nicht unähnlich.
"Das sind bloß die blauen Schatten." erklärt John Bobi, und legt dabei dem sich noch immer krümmenden Hishutoki beruhigend eine Hand auf die Schulter.
"Bis jetzt wissen wir noch nicht, woraus sie bestehen oder woher sie kommen. Unstrittig ist, dass sie intelligent sind. Wir haben sie den schwierigsten logischen und kombinatorischen Tests unterzogen, und sie haben sie gelöst als wären sie irgendwelche Kinderspielereien. Trotzdem ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen, wirklichen Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Es gibt Leute, nicht viele allerdings, denen schlecht wird, wenn sie auftauchen. Wir können nicht sagen, ob die Schatten allein daran schuld sind, oder ob irgendeine besondere Empfindlichkeit der Leute dabei eine Rolle spielt. Aber passt mal auf, was wir mit den Schatten gleich anstellen!"
Der Transporter hat sich inzwischen Ullos Garage genähert, die sich ein wenig außerhalb der Hauptstadt Drellapolis befindet. Unter all den Apparaten, die in Ullos Maschinenpark vor dem Gebäude herumstehen, ist auch ein großer Scheinwerfer zu erkennen. Zwei Männer bedienen ihn gerade und bewegen seinen silbrig gleißenden Strahl in Richtung der wabernd-blauen Erscheinung. Schließlich legen sie einige Hebel um, woraufhin sich der Schatten ohne sichtbare Einwirkung mit einem schlürfenden Geräusch rasch zu einer punktförmigen Erscheinung zu verkleinern beginnt, so als würde er in einen galaktischen Ausguss hineingezogen. Mit einem weiteren Hebelzug der Techniker wird der Schatten weit ins All hinauskatapultiert, wo er sich gemächlich wieder auszubreiten beginnt.
 Simone und Hishutoki, dessen Übelkeit sich nach Entfernung des Schattens schlagartig wieder gelegt hat, sind nicht schlecht beeindruckt.
"Die ganze Apparatur hat Bosonenstock, Rosenstocks Schwager entwickelt." fährt John Bobi fort. "Wir nennen ihn hier alle nur Zonen-Bono, weil er für seinen ersten größeren Versuch auf Drella partout einen Sicherheitsradius von fünfzehn Kilometern auserbeten hat. Aber er hatte recht! Und als Erfinder ist er unschlagbar."
Ullo, der für die Scheinwerfer-Demonstration einen kurzen Halt eingelegt hat, gibt nun wieder Gas. Er steuert den Transporter seitlich an die Hauptstadt heran, um sich dann jedoch kurz davor mit einem Neunzig Grad-Schwenk wieder davon abzuwenden.


Fünfte Szene

Einige Minuten später schwebt der Transporter im Schein des milden drellianischen Mondlichts und begleitet von einer Herde neugierig-fröhlich voranspringender Antilopen über rötlich-staubiges Steppenland. Allmählich nähert er sich dabei einer Gruppe wild und cowboyhaft gekleideter Männer mit langen Haaren und Bärten, Lederjacken und bunten Stirnbändern. Auch einige breithüftige Frauen sind mit darunter, die anstatt der Lederhosen wallende Röcke aus Leder tragen. Auf der Erde vor hundert Jahren hätte man diese Menschen wahrscheinlich für eine Bande Hells Angels halten können. Die drellianische Bande allerdings bewegt sich hüpfend auf Pogostäben voran.
Ullo setzt an, die Gruppe in einem Abstand von zwanzig Metern zu überholen, doch die Springenden werden rechtzeitig auf das Fahrzeug aufmerksam, wenden sich demonstrativ zur Seite, beschleunigen ihre Sprünge und machen sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon, bis sie schließlich hinter einer Kette Monolithen außer Sichtweite geraten.
"Wer war denn DAS?" platzt es aus Hishutoki und Simone heraus.
"Das sind die Pogo-Freaks." erläutert John Bobi. "Sie wollen mit dem Rest der Siedler nichts zu tun haben und hausen hier draußen in der Steppe. Ziemlich rauhbeinig im Umgang, aber vom Charakter her tadellos. Neulich haben sie ein Kind, das sich aus Drellapolis verlaufen hatte, erst mal bei sich schlafen lassen, durchgefüttert, und dann kommentarlos wieder zurück in die Stadt gebracht."
Ullo zieht eine langgezogene Kurve, und der Transporter nähert sich der Siedlung von Neuem.
Kurz bevor er die ersten Häuser erreicht, taucht rechterhand ein zweistöckiges Holzgebäude auf, ein offener Bau mit breiter Terrasse, dem Anschein nach gastfreundlich und jedermann einladend. Dahinter scheinen im Dunkel noch die Silhouetten eines noch größeren Bauwerks und einer dazugehörigen Parkanlage mit hochgewachsenen Platanen, Lianen und Baobabs.
Unter den Drellianern setzt respektvolles Geflüster ein. Helen Bobi deutet mit dem Finger auf das Haus im Vordergrund.
"Das ist Rosenstocks Haus. Er wohnt hier ganz unbehelligt mit Kerstin und den Kindern." meint sie bewundernd.
Hishutoki zuckt bei der Erwähnung des großen Rhapsoden, Schriftstellers und Gesellschaftstheoretikers unwillkürlich zusammen.
"Du meinst doch nicht etwa DEN Rosenstock, oder? Ich hab mir vorhin schon gedacht, als du über Bosonenstock gelabert hast..."
"Genau den hat sie aber gemeint." schmunzelt John Bobi und hebt verschmitzt seine Augenbrauen.
"Aber in den Nachrichten hat es doch geheißen, Rosenstock ist bei seiner Flucht in den Mond geknallt." wendet Simone ein.
"Ein Ablenkungsmanöver." erwidert Bobi. "Wir hatten alles aufs Genaueste geplant. Niemand und vor allem NICHTS auf der Erde sollte mitbekommen, wohin er wirklich unterwegs war. Mit uns hierher nach Drella nämlich."
Im ersten Stock des Hauses brennt noch Licht.
"Oft arbeitet er in seinem Office bis spät in die Nacht." erklärt John Bobi weiter. "Das Erste, was er auf Drella getan hat, war, eine Verfassung auszuarbeiten, basierend auf einem christlich-empiristisch-epikureisch-spinozisto-stoizistoiden Weltbild. Es ist faszinierend. Das erste philosophische Weltbild, das funktioniert."
"Mmm, kommt gut!" meint Hishutoki, und streicht sich anerkennend den Bart.
"Und das Gebäude dahinter, wem gehört das?" fragt Simone.
"Das ist unser Campus." antwortet Bobi. "Gymnasium, Uni, Volkshochschule, hier ist alles zusammengefasst. Wir haben zwar noch nicht viele Dozenten, aber eigentlich ist immer was los. Die Kinder werden täglich in abwechselnden Fächern unterrichtet. Bosonenstocks Team präsentiert hier regelmäßig seine neuesten Forschungsergebnisse, Rosenstock gibt manchmal Improvisationen oder ein kleines Theaterstück, meine Frau hält alle paar Monate einen gut besuchten Klöppelkurs ab, Kerstin Rosenstock gibt Sprach- und Kommunikationsseminare, Ullo einen Do-It-Yourself-Kurs für Mondautos und Rallyebikes."
"Wenn du mal klöppeln willst, Simone, brauchst du nur mal bei uns vorbei zu kommen." mischt Helen Bobi sich eifrig ein. "Garn und Klöppel hab ich immer daheim."
"Ja, Simone, komm einfach vorbei, wenn du mal klöppeln willst." fügt John Bobi mit einem sehr spezifischen und gar nicht so fröhlichen Augenzwinkern hinzu. Dann setzt er seine allgemeinen Erläuterungen fort. "Alle Drellianer haben freien Zugang zu den Kursen, und es sind nicht die wenigsten Vorlesungen, in denen von acht bis achtundneunzig alle Altersstufen vertreten sind.
Allein aus den paar Informationen könnt ihr wahrscheinlich schon erkennen, dass sich unser Bildungssystem stark von dem auf der Erde unterscheidet. Wir Drellianer versuchen dabei, so wie in allem, die Menschlichkeit in den Vordergrund zu stellen, ohne aber deren schlechte Seiten, sprich: den Wolf und das Faultier im Menschen, zu großen Einfluss gewinnen zu lassen. Ansonsten trennt unseren Campus wahrscheinlich gar nicht so viel von einer guten, fortschrittlichen und ausreichend finanzierten Bildungseinrichtung des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts. Natürlich müssen dabei auch wir Schwerpunkte setzen. So steht der sinnlich-körperliche Aspekt im Zentrum unserer Bildung und Erziehung. Alles mit dem Ziel, den Menschen wieder zu sich selbst zurückzuholen. Im Unterricht konzentrieren wir uns, nur um ein paar Beispiele zu nennen, und von den allgemeinbildenden und naturwissenschaftlichen Fächern abgesehen, auf Schrifttum, Malerei, Kalligraphie, Gedächtnistraining, alte und neue Sprachen, Mathematik, Musik, Remixtechnik sowie generell das Handwerk oder die handwerkliche Basis der Künste. Bindende Zensuren gibt's übrigens erst ab der neunten Klasse."
Kurz vergewissert sich John Bobi, ob Simone und Hishutoki ihm noch folgen können. Er sieht sich bestätigt und spricht wieder weiter.
"Filme, welche die Technisierung und/oder technische Spezialeffekte verherrlichen, halten wir vorläufig noch unter Zensur. Der Kulturrat ist sich natürlich im Klaren darüber, dass sich eine Zensur auf Dauer nicht halten lässt, aber irgendwie muss man ja schließlich mal anfangen, um wieder zum Denken zu kommen, nicht wahr? Wobei wir natürlich nichts gegen einen guten Film ab und zu haben. Vor ein paar Monaten haben wir beispielsweise eine Art filmästhetisches Volksbildungsprogramm eingeführt. Dabei werden den Leuten im ersten Jahr nur Stummfilmklassiker vorgeführt, im zweiten Jahr Eisenstein und Pudowkin, dann im nächsten Jahr Riefenstahl, Lubitsch, Murnau, Abel Gance, die frühen Amis und so weiter. Aber wir müssen erst noch sehen, was die Statistiken dazu sagen."
Einen Moment lang überlegt Hishutoki, ob er seine Micro-Disc mit allen zweiunddreißig Teilen Matrix, dem verlogensten Techno-Schund aller Zeiten, nicht einfach hier irgendwo in der Steppe entsorgen soll, bringt es dann aber nicht übers Herz. Der Gedanke, nie wieder Matrix sehen zu können, obendrein im Exil, erfüllt ihn mit offener Furcht.


Sechste Szene

Inzwischen hat der Transporter Drellapolis erreicht, und Ullo steuert am Rande der Ansiedlung entlang. Einige Siedler, die sich noch im Freien aufhalten, winken zu dem Gleiter herüber, vor einem aufgeräumten Bungalow bringt eine Mutter mit ihrem Roboter gerade ihre Kinder ins Haus, ein Vater und sein Roboter erledigen vor einem zweiten dasselbe.
John Bobi deutet nun in Richtung Ortsmitte:
"Die beiden beleuchteten Gebäude, die ihr da vorne zwischen den Häusern seht, sind die Siedlungsverwaltung und die Altruismus-Bank. Die Siedlungsverwaltung ist mein Reich, die Altruismus-Bank ist unser einziges Bankhaus und wird von Helen geleitet."
Helen räuspert sich ernst, so als käme nun ihr Moment.
"Es steht gewissermaßen unter staatlicher Verwaltung und wird komplett aus Steuergeldern finanziert." setzt sie ein. "Zinsen sind vorläufig auf Drella verboten. Alle Förderungen und Vergaben von Forschungsaufträgen stehen noch unter staatlicher Kontrolle. Der Preis, den der einzelne in diesem vor Konjunkturkrisen sicheren Finanzsystem zu zahlen hat, ist uns und der Bevölkerung von Drella natürlich klar. Die Chance auf totale Selbstverwirklichung nach US-europäischem Muster, wie wir sie in unseren früheren terrestrischen Vorstellungen noch gekannt haben, wird es dadurch nicht mehr für alle geben.
Diesem Negativum entgegen steht aber die Stabilität des Drella-Systems. Davon abgesehen muss man sich ja sowieso fragen, wie viele Träume von einer Karriere als Mannequin in den letzten zweihundert Jahren auf der Erde in Erfüllung gegangen sind. Und wie viele Sportprofiträume haben durch Pleiten, individuelle Nicht-Eignung und zerrüttete Familienverhältnisse nicht schon ganze Lebensläufe vernichtet? Wir haben oft mit den Rosenstocks darüber gesprochen, und die glauben ohnehin, dass sich bei einem bescheideneren Ausgangspunkt für den einzelnen oft mehr erreichen lässt als durch die Forderungen einer Individualgesellschaft, in der meistens nicht mehr gefördert wird als Stress, Belastungssyndrome und Herzkrankheiten.
Natürlich dulden wir auf Drella auch, ich sage das nur, um eurer Frage, die früher oder später ganz automatisch kommen wird, zuvor zu kommen, privatwirtschaftliche Unternehmen. Sie sind, wenn ihr so wollt, sogar durchaus erwünscht, unterliegen aber einer Wachstumsgrenze. Auf die Art verlieren wir zwar einige synergetische Möglichkeiten, ersparen uns aber auch jede Menge unrühmlicher Verflechtungen und eine zu große Distanzierung zwischen Verwaltung und Management auf der einen sowie Angestellten und Produktivkräften auf der anderen Seite.
Die Verhandlungen mit unserem Unternehmerverband über die Umsatzbeschränkung von Privatunternehmen waren übrigens ganz schön hart, das kann ich euch sagen. Vorläufig haben wir uns jetzt mal auf ein Maximum von vierhundert Milliarden Drella-Dollars geeinigt, umgerechnet also rund zwei Billionen Euro. Dafür ist uns ein besonderer Coup gelungen, als wir eine Garantie erwirkt haben, dass die Grundversorgung, also Nahrungserzeugung, Energie und Umweltschutz für die nächsten zehn Jahre unter staatlicher Kontrolle bleiben. Im Gegenzug haben wir die Bildung einer privaten Börse genehmigt sowie in fünf Jahren die Gründung einer ersten privaten, zinsfähigen Bank."
"Und wie sieht's bei euch Lobbyvereinigungen aus und so?" fragt Simone ein wenig beunruhigt.
Fröhlich und wie auf Befehl lachen die Drellianer nun auf, so als sei Simones Bemerkung der eindeutigste und unbeholfenste Scherz, den man sich überhaupt nur vorstellen kann, und John Bobi antwortet belustigt.
"Ich möchte dir nicht raten, das Wort Lobby auf Drella zu oft in den Mund zu nehmen. Ich fürchte, niemand kann hier dann mehr für Deine Gesundheit garantieren."
Simone überlegt kurz, ob sie die ungefähr fünfzig Mitgliedsausweise, die in einem kleinen Seitenfach ihres Rucksacks leise gegeneinanderklappern, und die ihr auf Erden zumindest zeitweise immer so gut weiter geholfen haben, nicht einfach wegwerfen soll, denkt sich dann aber, dass man ja nie wissen könne, wofür man sie noch brauchen kann, und lässt davon ab.

Lautlos passiert der Transporter die letzten Randbezirke der Siedlung, wo in beinah allen Häusern die Lichter mittlerweile erloschen sind. Darüber kreuzt ein schattenhaft weißer Gänseschwarm den nächtlichen Luftraum.
"Sind das – Sind das Vögel?" fragt Hishutoki verdattert.
"Es sind Gänse." erzählt John Bobi. "Das war so ziemlich das erste, was wir gemacht haben, als wir hier ankamen. Ein paar Gänse in die Wildnis zu entlassen. Inzwischen vermehren sich wie verrückt."
"Das sieht man." sagt Hishutoki.
"Und fliegen die nicht weg?" fragt Simone.
"Wohin sollten sie denn fliegen?" fragt John Bobi zurück und lacht. "Sie könnten doch bloß ins Weltall!"
"Das stimmt auch wieder." meint Simone einsichtig.


Siebte Szene

Nun wird Hishutoki auf die zugleich bequemen und eleganten Turnschuhe aufmerksam, die von allen Drellianern getragen werden. Alle diese Schuhe haben drei Streifen von schlichter, ebenmäßiger Breite aufgenäht, genau so, wie man es von den Adidas-Modellen zu den besten Zeiten dieses inzwischen vollkommen aus der Form gelaufenen Lebensmittel-, Textil-, Sportgeräte-, Kosmetik-, Reise-, Drogen-, Unterhaltungs- und Elektronikkonzerns kennt.
"Eure Schuhe sind mir zuvor schon aufgefallen. Die sind ja absolut geil." meint er, indem er sich zuerst bewundernd am Boden des Transporters umsieht, und dann für einen kurzen, verstörten Moment seine eigenen, vollkommen überteuerten, klotzigen und hoffnungslos unbequemen Ado-Freak-Shoes betrachtet.
Die Drellianer fühlen sich offenbar geschmeichelt.
"Wir haben unsere eigene Adidas-Fabrik." erklärt Bobi, der Gouverneur, stolz. "Wir wollten einfach wieder richtig gute, praktische Turnschuhe produzieren können, Turnschuhe, bei denen klar wird, wo sie herkommen und wo sie hingehören, nicht diese halben Flundern, Raumschiffe und Kothurnen, wie wir sie die letzten hundertfünfzig Jahre auf der Erde gesehen haben. Wir wollten einfach wieder das Echte. Ich sag nur Max Morlock, Emil Zatopek und so, kein Doping und keine Manipulationen."
Hishutoki nickt verstehend, Simone, die ebenfalls zugehört hat, schürzt beeindruckt die Lippen.
Der Transporter, von Ullo souverän manövriert, hat inzwischen das von Wäldchen, Kratern und landwirtschaftlichen Flächen überzogene Hinterland der Hauptstadt erreicht.
"Übrigens ist Drellapolis nicht unsere einzige Ansiedlung." wechselt John Bobi das Thema. "Ihr könnt Dörfer und Ansiedlungen auf ganz Drella finden. Und die Pogo-Freaks sind sogar Nomaden. Sie leben in Zelten irgendwo unter den Sternen, und oft wechseln sie ihre Schlafplätze jeden Tag."
Vor einem der Krater kommt der Transporter zum Stehen. Das Gebilde wirkt völlig kreisrund, sein Durchmesser beträgt vielleicht fünfzig Meter, die Höhe seines Grats etwa fünf. Hinter dem Grat blitzen abwechselnd Lichter, Rauchschwaden und Laserspots hoch, abgedroschene, negativistische HipHop-Schlagermusik quäkt dazu aus verschiedenen Lautsprechern, dazwischen sind immer wieder lautes, ausgelassenes Lachen, Platschen, dann wieder das Geräusch eines wuchtigen Wasserstrahls, der in beinahe kochendes Wasser herniederschießt, zu hören.
Über die Gesichter der Drellianer spielen die Ausdrücke verschmitzten Lächelns. John Bobi beginnt seinen verdutzten Gästen das seltsame Geschehen in dem Krater zu erklären.
"Das da drin sind die Warmduscher. Ihr Singledasein auf der Erde hat sie erst verrückt werden und dann mutieren lassen. Ihr Lebensinhalt ist auf ein Stadium degeneriert, in dem sie ihre Tage und Nächte nur noch in ihrem Lavapool verbringen, und dabei glauben, den Spaß ihres Lebens zu haben. Doch das Recht auf freie Lebensgestaltung steht ihnen zu. Wir haben das in unserer Verfassung ausdrücklich festgehalten. Gesellschaftlich allerdings können wir sie, so wie es aussieht, ein für allemal abschreiben. Sie halten es einfach nur noch untereinander aus. Nicht mal unser Sozialarbeiter kommt an sie ran. Sie bespritzen ihn regelmäßig so lange mit Wasser, bis er sich wieder davon macht. Ihr könnt sie später gerne mal besuchen, wenn ihr wollt. Sie halten sich für die absoluten Konversationskanonen. Auch wenn sie's nicht sind. Im Gegenteil."


Achte Szene

Ullo gibt wieder Gas, und bald kommt eine kleine Gemüse- und Ziegenwirtschaft in Sicht. Mitten unter den Gemüsefeldern baut ein etwas schrullig wirkender Mann im Schein einiger Lichter gerade an einem windschiefen, hölzernen Hasenstall. Er trägt einen Sombrero, darunter spitzt nackenlanges, peinlich strohblond gefärbtes Haar hervor, noch weiter unten trägt er eine Schlagjeans und einen farblich und schnittmäßig völlig deplazierten Glitzerpulli von Fressange. Als er den Transporter bemerkt, grüßt er überschwänglich herüber.
"Benno Kalle-und-Friedrich von Flick." kommentiert Helen Bobi das Bild. "Er war praktisch stumm, als er hier ankam, und galt als Mutist. Das einzige, was er zu Anfang herausbrachte, war ein ausführlicher Gesetzesantrag an die Regierung, alle Frauen, die irgendwelche Männer über Jahrzehnte verarschen, lebenslang in den Knast zu verfrachten. Ein völlig unmögliches Verlangen. Wenn man in den vagen Bereichen der zwischenmenschlichen Beziehungen erst mal anfängt, Recht zu sprechen, kommt man aus dem Sanktionieren nicht mehr raus.
Als Erstes schloss Benno sich den Pogo-Freaks an, wo er es aber nur zwei Tage lang aushielt, was verständlich ist. Wie soll jemand, der sein Leben lang fanatisch serielle Musik konsumiert hat, nun plötzlich täglich vierundzwanzig Stunden lang Steinzeitrock aushalten können? Die Chancen dafür standen denkbar schlecht. Dann hat Rosenstock ihn auf eine Wanderung ins Gebirge mitgenommen, und herausgefunden, dass hinter Bennos Frauenhass eine völlig aus dem Ruder gelaufene Geschichte mit seiner Erzieherin, einer Robot-Ideologin namens Biggi stand. Rosenstock hat ihn dann mit Susanne zusammen gebracht, die hier einen Hofladen mit ihrer Ziegenherde betreibt. Seitdem entwickelt sich Benno immer mehr zu einem selbständigen und fruchtbaren Mitglied unserer Gemeinschaft. Zum ersten Mal in seinem Leben glaubt er, einen Platz gefunden zu haben, an den er hingehört. Das hat er mir neulich selbst gesagt."
Hishutoki und Simone werfen sich ein kurzes, mitleidiges Lächeln zu. Offenbar haben die beiden sich doch bereits ein wenig zu weit von Frucht und Frommen naiver Lebensentwürfe entfernt. Ullo drückt indessen wieder aufs Gas.


Neunte Szene

Nach einer Weile erreicht der Transporter eine kleine, unter einigen halbdürren Pinien stehende Siedlung aus baufälligen Hütten, die größtenteils aus ineinandergesteckten, grob behauenen, abnadelnden Pinienästen bestehen. Aus einem Teil der Hütten ist wildes Schnarchen zu hören, aus dem anderen die Geräusche momenthaft enthemmter Kopulationen. Vor den Hütten treibt sich ungekämmtes und schlecht bekleidetes Volk herum, das sich einmal voll inniger Bewegung in die Arme fällt, sich dann aber sofort wieder zerkriegt und empört gegenseitig in den Dreck zurückstößt.
"Was machen die denn da?" fragt Hishutoki und schüttelt den Kopf.
Simone reibt sich verwundert die Augen.
"Das ist die Kommune." erklärt John Bobis Stimme nüchtern. "Die Leute hier sind nicht sehr beliebt unter den Siedlern. Nachdem unsere Verfassung aber ausdrücklich auf dieses Problem eingeht, bleibt auch den Normalbürgern nichts anderes übrig, als solchen Außenseitern ihren Willen zu lassen. Zumindest solange es keine echten körperlichen oder geistigen Übergriffe gibt.
Rosenstock meint, dass am Ende fast alle Menschen zu Ordnung und geregelten Verhältnissen hin tendierten. Und er hat recht. Ein Drittel der Kommunarden lebt inzwischen schon wieder in Drellapolis. Früher oder später wird der Zwang, den die Anarchie auf den Einzelnen ausübt, notwendig größer als jener der meisten gesellschaftlichen Systeme. Und die Anarchie an sich kann ja als System gar nicht gelten. Was sie auszeichnet, ist die Systemlosigkeit."
"Ich meine, wenn sie sich wenigstens einen anderen Namen ausgesucht hätten!" fällt Helen Bobi nun ein. "Aber da ist nichts zu machen. Sie werden schon rabiat, wenn man sie nur drauf anspricht. Manchmal kommt's mir vor, als gründeten sie ihre ganze Existenz allein auf diesen Namen."


Zehnte Szene

Weiter fährt Ullos Transporter und erreicht ein kleines Lagerfeuer, das von einer Gruppe junger Menschen und einem Fuhrpark Mofas umstellt wird.
"Habt ihr etwa Pfadfinder auch noch?" fragt Hishutoki staunend.
Kopfschüttelnd verdeutlicht der Gouverneur, dass dies keine Pfadfinder, sondern HipHopper seien. Gegen die von höchster Stelle verordneten Robothopper und Babyboybands hätten sie auf der Erde selbst im Jugendklubhaus ihrer Gemeinde keine Chance gehabt, und seien, als sich die Möglichkeit bot, ohne zu zögern mit in das Raumschiff nach Drella gestiegen.
Die HipHopper, sechs junge Männer, sind sofort zu einer Kurzperformance bereit. Mit rührendem Eifer fangen sie in ihren HipHop-Taschen nach ihrem Schild zu suchen an. Als sie es endlich gefunden haben, ist es kein Schild, sondern ein Transparent. Sie stellen sich in einer Reihe auf und rollen das Transparent aus. Es ist weiß, und in hellblauen, handgepinselten Buchstaben steht darauf das Wort "Manifesto". Die meisten der sechs Jugendlichen tragen Schlabberhosen, Adidas-Turnschuhe und nicht mehr ganz saubere Kapuzenshirts. Der HipHopper am linken Rand der Gruppe trägt ein wuchtiges Musikinstrument um die Schultern. Es ist eine Quetschen, eine Art voralpenländischer Ziehharmonika.
Als Erstes nun stimmen die HipHopper einen getragenen und provokant unrhythmisch klingenden Chorgesang an.
"Wir lehnen Synchronbewegungen ab, wir lehnen alle Arten von unmotivierten Fingerfuchteleien ab, wir lehnen Musikvideos ab, wir lehnen es ab, von oben in irgendwelche Kameras zu schauen und unser fehlendes Können durch technische Effekte zu kaschieren. Wir lehnen es ab, dass Männer sich Zöpfchen flechten oder irgendwelche saublöden Bärtchen tragen, wir lehnen Gewaltvideos und Sex in jeder künstlerischen Ausdrucksform, auch wenn wir ihn realiter natürlich gerne hätten, ab. Und Headbangen lehnen wir auch ab!"
Nach einer kurzen, dramatisch wirksamen Pause beginnt der Harmonika-Mann zu spielen, und die verbliebenen Fünf rappen die folgenden Verse, indem sie einander abwechseln:

Wir kamen auf diesen Planeten
mit solarbetriebenen Raketen,
hielten's nicht mehr aus auf dem ErdenRUND,
saßen uns die ÄRSCHE wund!
Wiesen und Felder,
geopfert für den Fluß virtueller GELDER!
Roboter, von Idioten programMIERT
haben uns unser Leben DIKTIERT!
Aber auf das System von Rosenstock
haben wir Bock,
läßt uns machen, was wir wollen,
nicht, was wir tun SOLLEN!

Damit ist die Performance der HipHopper schon beendet, und sie entschuldigen sich für den provisorischen Charakter ihrer Nummer, aber sie seien ja erst Jugendliche und müssten ihren Stil erst finden, und überhaupt, wie sollten sie gut reimen können, wenn sich ihre Vorfahren schon seit Generationen nichts mehr um ihren Ausdruck und ihren Wortschatz geschissen hätten?
Respektvoll klatschen die Drellianer Applaus, ganz wie Hishutoki und Simone, die ernst gemeinten HipHop auch nicht schlecht goutieren.
Schließlich verabschiedet man sich voneinander, und die HipHopper wenden sich wieder sich selber und dem Lagerfeuer zu, um Gott und die Welt ein für allemal auszudiskutieren.


Elfte Szene

Der Siedlung wieder näherkommend, verlässt der Transporter langsam das Kraterfeld. Aus dem letzten Krater, bevor die Landschaft wieder in die staubige Baobab-Ebene vor Drellapolis mündet, dringt ein ununterbrochener Chor von Entsetzensschreien.
"Aargh!" schreien die einen Stimmen, "Nein!" und "Igitt!" wieder andere.
Wie schon am Krater der Warmduscher, können sich John Bobi, Helen und die Drellianer ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Der Transporter hält.
Hishutoki sieht sich unter seinen Gastgebern um.
"Ist das Euer Folterkrater, oder was?" fragt er belustigt.
 Doch kaum haben diese Worte Hishutokis Lippen verlassen, verdüstern sich die Mienen der Drellianer.
"Nein, ein Folterkrater garantiert nicht." antwortet John Bobi mit eisiger Miene. "Nur damit dir das klar wird, Hishutoki: Bei Folter verstehen wir hier auf Drella keinen Spaß mehr. Du wirst das sicher verstehen lernen.
Was ihr da tatsächlich hört, ist die Vereinigung gegen Körpersäfte, eine, offen gestanden, ziemlich merkwürdige Sekte. Sie sind eigentlich gegen ihren Willen mit nach Drella gekommen. Sie hatten sich gerade zu einem geheimen Reinigungsritual in unseren Vorratstanks getroffen, als wir gestartet sind. Und danach gab's natürlich kein Zurück mehr.
Hier wären sie in dem Schmutz der ersten Tage beinah verrückt geworden, und haben sich sofort von den anderen Siedlern isoliert. Sie wollen und können mit anderen Menschen einfach nichts mehr zu tun haben. Wir versorgen sie regelmäßig mit dem Nötigsten, Latex-Anzügen, sterilem Essen, und was sie sonst noch brauchen. Ob sie damit dann zufrieden sind, können wir nicht wirklich beurteilen. Irgendwie haben sie einfach einen Knacks abbekommen, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Manchmal kommen sie auch in die Siedlung. Aber nur in Schutzanzügen und mit Desinfektionstanks auf ihren Rücken. So kommen sie natürlich nicht besonders gut an. Trotzdem muss man versuchen, sie irgendwie ernst zu nehmen. Es gibt immer wieder Siedler, die versuchen, sie zum Essen einzuladen oder sonst irgendwie an sie ranzukommen, aber im Normalfall reden sie nicht mal mit einem."
Der Gouverneur kramt in seiner Hosentasche nach seinem Handy.
"Ich ruf jetzt mal bei Rosenstock an, ob er schon Zeit hat." sagt er. "Alle Neuankömmlinge verbringen ihre ersten Tage nämlich bei Kerstin und Kai."


Zwölfte Szene

Der Gouverneur tippt eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung wird abgenommen.
"Ja, hier Kai?" fragt eine männliche Stimme, unendlich tief, weise und wohlklingend.
"Okay, sie können kommen, wir haben jetzt Zeit." erklärt die Stimme, nachdem John Bobi kurz das Notwendigste geschildert hat.
Zufrieden steckt Bobi sein Handy wieder ein.
"Sie haben Zeit, Ullo." sagt er.
Der Mechanikermeister versteht und nimmt direkten Kurs auf das Rosenstocksche Anwesen.
"So, dann schlafen wir also bei den Rosenstocks?" fragt Hishutoki zaghaft.
Bobi nickt, und der Gesichtsausdruck der Drellianer hinter ihm wird wehmütig bei dem Gedanken an ihre ersten Tage auf dem Planeten bei den Rosenstocks. So vergehen die nächsten Minuten in Schweigen. Dann plötzlich wird Simone stutzig.
"Du, John," sagt sie, "eine Sache kapier ich aber noch nicht. Euer Planet ist ja eigentlich total klein. Aber wir können uns drauf bewegen, als wären wir auf der Erde. Und ihr habt sogar eine Atmosphäre wie auf der Erde. Aber das funktioniert doch eigentlich gar nicht. Von der Schwerkraft her und so. Oder habt ihr hier irgendwo einen größeren Planeten versteckt?"
"Du hast ganz richtig beobachtet, Simone." antwortet Bobi. "Als wir hier ankamen, war Drella ein ganz normaler Asteroid, dessen Gravitation gegen Null ging, und wir mussten unsere Schiffe mit Enterhaken und Saugnäpfen dran festmachen. Das Erste, was wir dann aber unternahmen, war, einen Gravitator in den Kern von Drella zu verlegen, den Bosonenstock konstruiert hatte. Er besteht aus je einem Schwarzen und einem Weißen Loch von fast identischen Massebeträgen. Die Differenz hat in etwa die Masse der Erde abzüglich der Masse des ursprünglichen Asteroiden. Als nächstes bildeten wir dann die Atmosphäre aus, aber das wäre zu kompliziert, um es jetzt zu erklären."
"Aber weiße Löcher? Was meinst du mit weißen Löchern?" fragt Hishutoki.
"Negative Gravitation." erklärt der Gouverneur. "Die lange gesuchte Dunkle Energie. Nichts anderes war die Ursache des Urknalls. Eine unendlich massereiche Singularität, bestehend aus unendlich vielen verschmelzenden Schwarzen Löchern, mit Notwendigkeit bis ins Unendliche kollabierend. Im Unendlichen aber wechseln die Vorzeichen, und die Gravitation dreht sich um. Eine Explosion folgt, in ihrer Unvorstellbarkeit ohne Maß."
John Bobis Handy klingelt, und der Gouverneur hebt ab.
"Ich verstehe." antwortet er nach einer Weile mit zitternder Stimme und legt lächelnd wieder auf.
"Wir kriegen noch mal Gäste." wendet er sich freudig erregt an alle. "Ein Großtransporter ist auf dem Weg hierher. Mindestens dreißig Leute!"
Jubel bricht aus über die neuen Mitbürger, die es von der Erde geschafft haben. Überschwänglich fallen die Drellianer sich in die Arme und geben sich auf ziemlich unbeholfene Weise, so als hätten sie Dinge dieser Art noch niemals wirklich praktiziert, fünf. Der Gouverneur wählt währenddessen die Nummer der Rosenstocks.
Diesmal hebt Kerstin ab, und John Bobi berichtet ihr die Neuigkeiten in wenigen Worten. Kerstin verfällt darüber in Schweigen, so als überlegte sie in vollkommener innerer Ruhe. Dann sagt sie:
"Ich freue mich. Ich freue mich sehr und auch nicht."
Noch einmal folgt ein kurzes Schweigen, dann fügt Kerstin, so als hätte sie plötzlich einen Entschluss gefasst, wie mit sich selber sprechend hinzu:
"Wir stellen ein Zelt für sie im Garten auf. Der Wetterbericht sagt gutes Wetter voraus. Essen können sie dann mit uns allen im Wohnzimmer. Und Robbi und Bioni sollten zur Sicherheit nochmal einkaufen gehen."