Bach/Kaiser
Ein unbedachter Fußtritt versetzt den alternden Komponisten Johann Sebastian Bach in die Wohnung des Münchener Musik-Kritikers, Journalisten und Radiomoderators Joachim Kaiser. Sofort entspannt sich zwischen den beiden eine angeregte Diskussion.
"Wenn ich's ihnen sage," erläutert Kaiser mit fröhlichem Nachdruck, "man hört ihre Musik andauernd, und fast immer ihre Concerti! Sicher kommt es schon mal vor, dass man ein paar Auszüge aus dem Notenbüchlein für ihre werte Anna Magdalena spielt oder eine Motette an Feiertagen, vielleicht auch, wenn man Glück hat, mal Jaqueline du Pre auf dem Violoncell, und dennoch, im Vertrauen und offen gesprochen: Tagaus, tagein hört man fast bloß ihre Concerti, und da in erster Linie natürlich die Brandenburgischen, die sind ja der Dauerbrenner überhaupt.
Übrigens sind die Österreicher in dem Punkt nicht viel besser. Auch die spielen ihre Concerti ohne Unterlass, unter Berücksichtung der besonders glücklichen historischen Umstände da drüben natürlich, Straußens, Schuberts, Schrekers und der Wiener Klassik also, wenngleich man beim ORF auch gerne mal was Ausgefallenes spielt, wie etwa ihre Humoreske in Assel-"
"Meine was?" fragt der Komponist dazwischen.
"Ihre Humoreske in Assel!" erwidert der Kritiker lebhaft. "In der sie das Schaben und Rasseln der Asseln unter ihrem Schreibtisch, ihrem Cembal und unter ihren durchgescheuerten, genagelten Schuhsohlen auf geniale und berührende Weise in Musiksprache transponieren."
Bach sieht Kaiser verständnislos an. Er hat sein Bachwerkverzeichnis zwar nicht hundertprozentig im Kopf, aber eine Humoreske in Assel, das kann er beschwören, hat er garantiert in seinem ganzen Leben nicht geschrieben. Nie würde er sich auf eine derart niveaulose Art über seine geliebten Tonarten lustig machen.
Die Stimmung kühlt merklich ab, und Kaiser wechselt taktvoll das Thema, indem er Bach in sein Arbeitszimmer mit der unüberschaubaren Bibliothek und der großartigen Stereoanlage führt.
"Sie kennen Goethe?" fragt der Kritiker mit feinem Lächeln.
"Goethe?" fragt der Komponist auf plumpe und bäurische Art zurück. "Hört sich an wie irgendein Stallknecht!"
Kaiser nickt verstehend. Er will indes die Diskussion nicht weiter vertiefen. Sein Arbeitstag war lang und auch er, der Leichte, der Kluge, der Sinnige, erlebt Zeiten, in denen Müdigkeit ihn befällt. Schnell noch erklärt er Bach das Radio, zeigt ihm die Wege zum Klo und zum Kühlschrank, und begibt sich danach zu Bett.
Die ganze Nacht über sitzt der Komponist nun vor dem Radio und hört Musik.
Als Kaiser am nächsten Morgen wieder ins Zimmer tritt, sieht er, dass Bach mit hinter dem Rücken verschränkten Armen am Fenster steht und grübelnd auf die Leopoldstraße hinaussieht. Aus dem Radio dröhnt Brahms' erstes Klavierkonzert.
Bach bemerkt Kaiser, rennt zur Stereoanlage, bringt sie nach einigem Gefummel zum Stehen und wendet sich heftig an den Kritiker:
"Das ist ja nicht auszuhalten! Diese Scheiß-Concerti! Ich kann das nicht mehr hören! Und alles mit großer Besetzung! Und wenn sie mal kein Concerto von mir bringen, dann bringen sie eins von Vivaldi oder eine von diesen unerträglichen Symphonien. Ich kann das nicht mehr hören! Gibt's denn nix anderes mehr? SCHEISS-GROSSES ORCHESTER! Das haut einen ja zu Tode!"
Kaiser gelingt es, den Komponisten zu beruhigen, indem er ihn in seine CD-Sammlung mit einer fünfstelligen Anzahl von Tonträgern einweist, die glücklicherweise auch noch Legionen nicht-orchestraler Werke enthält.
Bach ist sofort Feuer und Flamme, und hat sich schon durch die ersten zehn CD's gehört, als Kaiser für eine kurze Weile die Wohnung verlässt, um sich um das Mittagessen zu kümmern
Bach hat sich inzwischen Kaisers Infrarot-Kopfhörer aufgesetzt und nickt und wackelt zufrieden mit dem Kopf.
Irgendwann, er schält sich gerade ein Snickers ab, fällt ihm auf, dass der Boden unter seinen Füßen sich zu bewegen begonnen hat. Er steht auf und geht zu dem großen Fenster, von wo er jetzt einen farbigen Schimmer wahrnimmt.
Die ganze Leopoldstraße ist in leuchtendes Gelb getaucht.
Bach lächelt befriedigt.
"Thomas Mann hatte doch recht." denkt er sich. "München leuchtet!"
Doch es ist der Feuersturm einer Bombe, der die Stadt derart leuchten macht. Einer Bombe von so gewaltiger Wirkung, dass kein Mensch sich auch nur annähernd einen Begriff davon machen kann, nicht einmal jene Leute, die sie gebaut haben.
Brüllend, fliegend und mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit fetzt der Todessturm durch Münchens Straßen und pulverisiert alles, was sich ihm in den Weg stellt. Die explodierenden Gas- und Ölleitungen spielen keine Rolle dabei. Niemand bemerkt sie, und auch sie verschwinden innerhalb einer geringeren Zeitspanne als man sich vorstellen kann.
Als Bach innewird, dass es sich bei dem Ding, das da vom Odeonsplatz heraufkommt, um eine einzige Feuerwand handelt, und dass ihm nicht mal mehr eine Viertelsekunde bleibt, stellt er völlig konsterniert und mit der Beschränktheit seines menschlichen Vorstellungsvermögens fest:
"Mein Gott, es ist wie bei Böcklin. Der Tod reitet durch die Straßen...!"