Samstag, 9. Januar 2010

Der Philosoph

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Der Philosoph

Der Philosoph, der sein Leben lang darum gekämpft hatte, dass die Menschen aufhörten, sich gegenseitig zu zerstören, dass sie endlich anfingen, sich wenigstens auf einer minimalen Basis gegenseitig zu achten, der eigentlich Künstler hatte werden wollen, Dichter und Maler, der sein Leben aber diesem Kampf geopfert hatte, weil er ihn als seine Pflicht ansah, saß an einem Fenster der morgendlichen Straßenbahn. Er musste zum Arzt. Es war nur eine Routineuntersuchung, und doch beschäftigte ihn dieser Besuch schon den ganzen Morgen. Er sinnierte über die Medizin, die Vergänglichkeit des Menschen, die Tendenzen, ihn unsterblich machen zu wollen, und wie sich früher noch mancher mit fröhlichem Herzen, vielleicht weil es unvermeidbar war, in sein Schicksal gefügt hatte.
In einer Kurve holte ein plötzlicher Ruck ihn aus seinen Gedanken. Der Fahrer hatte fluchend die Straßenbahn angehalten, weil ein Lastwagen ihm den Weg versperrte. Ein Mann sprang aus dem Laster, der Straßenbahnfahrer schob, immer noch fluchend, sein Fenster herunter, um dem Mann die Meinung zu sagen. Der Mann aber beachtete die Straßenbahn überhaupt nicht. Er rannte schnurstracks ins nächste Haus und verschwand.
Dem Philosophen fielen jetzt auch andere Autos auf, die ruckartig abbremsten, die ineinander fuhren oder bereits angehalten hatten. Unter den Passanten brach Panik aus, einige begannen zu laufen.
Rätselnd sah der Philosoph noch aus seinem Trambahnfenster, als ihn plötzlich und wie ein Faustschlag eine Traurigkeit unendlichen Ausmaßes traf. Mit einem Mal wusste er, dass alles vorbei war. Dabei machte es ihm nichts aus, dass er selbst sterben würde, mit diesem Gedanken hatte er lange schon seinen Frieden gemacht. Auch hatte er das Glück gehabt, ein langes Leben führen zu dürfen. Aber die Menschheit, plötzlich spürte er wieder, wie unsäglich und unerträglich er an seinen verfluchten Mitmenschen hing. Dass die Menschheit nun vergehen sollte, dass sie das Schicksal erleiden sollte, das ihr ja schon von Anfang an vorherbestimmt war, das hielt er einfach nicht aus. Er konnte es vielleicht noch verstehen, doch es war ihm unerträglich.
Tränen strömten ihm aus den Augen, als er in dem anschwellenden Chaos auf der Straße seine Nachbarin entdeckte. Sie löste sich aus der wogenden Menge heraus, schlängelte sich zwischen den Autos hindurch und kam mit schnellen Schritten auf die Trambahn zu.
Die winzige alte Frau trug ihren Trachtenhut und ihren grünen Lodenmantel, die sie beide wahrscheinlich schon seit vierzig Jahren trug. Seitlich aus ihrer großen, braunen Einkaufstasche ragte eine Stange Sellerie, obenauf lag ein Salatkopf und irgendetwas in Pergamentpapier Eingepacktes, wahrscheinlich der Wurstaufschnitt für ihre verlauste Katze. Die Gesichtszüge der sonst so lebenslustigen Frau waren von äußerstem Schrecken verzerrt.
Sie hatte die Tram erreicht und schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe hinter der wie erstarrt ihr stumm vor sich hinweinender Nachbar saß.
"Schnöll!" rief die Frau durch das Glas mit gedämpfter Stimme. "De ham de Bomb'n gschmiss'n!"
Da ertönte ein Brüllen, ohrenbetäubend wie das einer Herde Godzillas, und das Verhängnis schwappte über sämtliche Dächer auf die Straße hernieder, tauchte rasend, brennend und unaufhaltsam von vorne und hinten in die Straße hinein.