Freitag, 26. Februar 2010

Die Deichcrew

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Die Deichcrew

Felsenschwer lasten die Zeiten auf den Schultern der Bevölkerung Norddeutschlands, doch noch lässt die sich nicht unterkriegen, noch schlagen ihre Herzen hoch, möglicherweise so hoch wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Gigantische Hochwasser suchen gegenwärtig einen Großteil ihres Lebensraumes, der großartigen norddeutschen Hochtiefebene heim. Militär, Technisches Hilfswerk und Hilfsorganisationen sind bis an ihre Grenzen mobilisiert, der Einsatz der Zivilbevölkerung ist überwältigend groß. Heldenhaft erledigen Hunderttausende ihren Dienst als Deichspäher, Deichläufer oder Sandsackschlepper.
So auch die Hansens, Else und Ulf. Erst gestern hat man sie zu Deichläufern ausgebildet, heute schon marschieren sie im Gleichschritt, ihre offiziellen rot-weißen Deichläufer-Schärpen über ihre linken Schultern geschlungen, über den Weserdamm zu Holzminden. Die beiden sind ein gut genährtes, brilletragendes Ehepaar irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. In ihren riesigen tonnenförmigen Gore-Tex-Anoraks wirken Else und Ulf beinah wie Zwillinge, von denen nur einer, Ulf nämlich, wie zur Unterscheidung einen gemütlichen Walrossbart trägt.
Der Ausblick, der Else und Ulf von der Flussseite des Dammes entgegen kommt, ist beängstigend. Viele Meter hoch ist der Wasserlauf über die Ufer getreten, und dort, wo sonst die sanfte Uferlandschaft der Weser sich breitet, fließt ein einziges bräunlich-dreckiges Meer aus Flusswasser, übersät mit dahinschwimmendem Müll, Geäst und toten Fischen, wirbelnd und brausend der Nordsee zu. Bis auf zehn Zentimeter reicht die Weser inzwischen an die Deichkrone heran.
Die ganze letzte Woche spricht man schon von einem Jahrtausend-Hochwasser. So hoch stand die Weser in Holzminden noch nie. Sollten die Dämme bei diesem Wasserstand brechen, dann ist die Stadt unwiederbringlich verloren. Zudem hat sich die Hochwassersituation in den letzten Tagen noch einmal dramatisch verschärft. Zentimeter um Zentimeter ist der Weserspiegel gestiegen, völlig durchdrungen ist der Deich mittlerweile vom Wasser und aufgeweicht. Unzählige kleine Rinnsale bahnen sich ihren Weg auf die trockene Seite des Dammes in die Stadt hinein. Mit Millionen von Sandsäcken versuchen die Menschen das durch den Damm dringende Wasser zu stoppen.
Indessen marschieren Else und Ulf, die sich für ihren Deichläufer-Dienst extra Urlaub genommen haben, weiter auf dem Damme voran, auf der matschigen Deichkrone nach Zeichen von Auflösung zu suchen.
Nachdem sie eine Weile derart voran geschritten, tauchen in einer kleinen Flussbiegung hinter einem Wall aus Sandsäcken Olaf Olafsen und der alte Bröckelbrook auf.  Mit ernsten Mienen spähen die beiden Männer auf die Weser hinaus. Die Hansens machen kurz Halt an dem Wall und beginnen mit Olafsen und Bröckelbrook einen Plausch. Angeregt unterhalten die vier sich über das Hochwasser, über die aktuellen Entwicklungen auf dem Damm, die neuen Schlauchboote der Bundeswehr, ein wenig Tratsch aus der Nachbarschaft, und alle haben sie das Gefühl, an etwas Unheimlichem und Besonderem teilzuhaben.
Da auf einmal erbebt der Deich sich ein wenig. Das Weserwasser fängt an zu zittern und gegen die Deichkrone zu plätschern, an der Wasseroberfläche schaukeln kleine Wellen sich auf.
"Was is’n das?" fragt der alte Bröckelbrook belustigt. Die anderen Drei wechseln ratlose Blicke. Else und Ulf müssen plötzlich schmunzeln. Das Vibrieren des Damms, welches eben eingesetzt hat, erzeugt in ihren Beinen ein lustiges Gefühl.
Da fliegt hinter ihnen ein etwa hundert Meter breites Stück des Damms einfach in die Luft. Mächtig strömt die Weser durch die entstandene Lücke und ergießt sich über Holzminden.
Ungläubig sehen die vier auf die Stadt hinunter. Dann dreht der alte Bröckelbrook sich zufällig wieder zur Weser hin um und fragt noch einmal belustigter als zuvor:
"Was is’n DAS, Leute?“
Auch Olaf Olafsen und die Hansens drehen sich jetzt wieder um und erblicken das Folgende:
Fern über dem Wald, dort wo Bremen, dahinter Bremerhaven und noch weiter hinten Nordsee und Nordpol liegen, erhebt eine Welle aus Wasser sich, beinahe unvorstellbar, mindestens ein paar Kilometer hoch. Rumpelnd und zweifellos unaufhaltsam rollt die Welle auf Holzminden heran.