Sonntag, 7. März 2010

Nachgeschobenes Vorwort


Das ursprüngliche Nachwort zu "Das Ende der Menschheit - Ein Märchenbuch", zuletzt überarbeitet, ich glaube 2005. Die heutige Wieder-Lektüre mit einiger Freude und Gewogenheit. Ich würde kaum etwas verändern.

Nachgeschobenes Vorwort:


Kai Wilhelm von Rosenstock-Bono ist Fabrikant, Lyriker, Schriftsteller, Essayist, Musical-Intendant und ehemaliger Europameister in den sportlichen Disziplinen Fünfsprung und Caber Toss. Er nennt Besitzungen in Goslar, Wernigerode und Garmisch sowie in Fortaleza und Boston sein Eigen. Er ist so bekannt wie erfolgreich, seine Ehrenämter sind zahllos, sein Reichtum sagenumwoben.
Es erscheint offenkundig, dass ein Mann wie Herr von Rosenstock-Bono nicht gerade an Minderbeschäftigung leidet. Trotzdem aber belädt er sich nun auch noch mit der gewaltigen Aufgabe, der Öffentlichkeit auf dieser Internetseite etwa ein Jahr lang (in Abständen von einer Woche) jeweils einen neuen witzigen Einfall, vielleicht auch eine gefühlvolle Kurznovelle, eine verwegen knapp gehaltene Short Story, eine bezugsreiche Anekdote, in jedem Fall aber irgend etwas Literarisches und Schriftlich Festgehaltenes über den Zeitraum kurz vor, während und nach dem Ende der Welt vorzulegen. Ist das nicht wirklich enorm? Doch was versteht er unter dem Ende der Welt eigentlich genau?
Wohl hauptsächlich das Ende der Menschheit, wie Herr von Rosenstock-Bono selbst sagt. In seinem Essay "Grüner Flieder für Rudolf Prack" äußert er sich, der Auskommen und Befindlichkeit des Menschen stets in das Zentrum seines Denkens und Schreibens zu stellen versucht, in anderem Zusammenhang folgendermaßen:

"So groß die Katastrophe auch sein mag, und ginge das Universum persönlich unter: Das eigentliche Verhängnis ist und bleibt für den einzelnen Menschen das Ende der Menschheit selber. Eine größere Horrorvorstellung als plötzlich allein im Auto, auf der Welt, im Universum zu sitzen kann es für diese Menschheit nicht geben."

Doch warum in aller Welt setzt ein Mann wie Rosenstock-Bono sich überhaupt mit solchen Dingen auseinander? Warum legt er sich nicht ins Freibad von Fortaleza und lässt alles ein wenig ruhiger angehen? Könnte er, ein begnadeter Skifahrer, nicht einfach ein paar elegante Schleifen auf den Graspisten von Garmisch schwingen oder sich seinem dreizehnten Hobby widmen, dem Skijöhring? Nötig haben kann er diese Schreiberei ja wohl nicht. Was treibt ihn also an dazu?
Detailliertere Aufklärung über die Motive des Autors erhält man aus einem Brief desselben an die Dichterin Victoria Rheintaler-Pölz. Im Voraus möchte Herr von Rosenstock-Bono aber noch, sich auf die Frage der Beweggründe beziehend, betonen, daß der Künstler hierin eben keine Wahl habe, das Werk müsse vorangetrieben werden, und die Richtung dabei könne ihm nur sein Herz, sein Gemüt, sein künstlerisches Ego oder wie auch immer man jene innerseelische Einrichtung nennen will, vorgeben. Nun aber zu dem Brief:

"Liebe Victoria,                                                                                                                                                         
was machen Dein Mann und die vierzehn Katzen? Ich hoffe, sie haben ihre Grippen, Arthrosen, etc. überwunden und sind alle wieder wohlauf.
Lass mich Dir nochmal danken für unser letztes Gespräch. Eines ist mir dadurch wieder klar geworden. Unsereins sollte sich eben nur für Projekte engagieren, von denen es selbst überzeugt ist, und zu denen ihm vor allem genügend einfällt oder eingefallen ist. Beides kann ich für mein Kai Falke-Projekt aber nicht behaupten. Es war letztlich nur das Ergebnis dieser kurzen, inspirierten Stunde in Fortaleza, und ist mir seither, wenn ich ehrlich sein soll, nur noch fremd. Gestern habe ich meine Unterlagen dazu nach langem Hin- und Her endlich ins Archiv verbannt, wo sie hoffentlich auch bleiben werden. Dieser Roman war mir zu einer Last geworden, meine liebe Victoria, und dass ich ihn los bin, verdanke ich allein Deiner gnadenlosen Kritik.
Jetzt, da mein Kopf von Kai Falke befreit ist, möchte ich mich für die nächsten zwölf Monate einem von mir seit einiger Zeit zunehmend intensiv geheckten Projekt widmen. Ich habe Dir bis jetzt, glaube ich, noch nicht erzählt davon. Das Thema ist spektakulär. Es geht darin um nichts weniger als um das Ende der Welt. Ich will nun versuchen, wenn Du erlaubst, Dir das ganze Vorhaben ein wenig näher zu bringen.
Warum habe ich das Thema Dir gegenüber bis jetzt noch nicht erwähnt? Der Grund dafür ist einfach. Bis vor einem halben Jahr hatte ich den Gedanken, dass es eines Tages einmal wahrhaftig bis zum großen Ende kommen könnte, einfach noch nicht realisiert.
Natürlich stimmt es, dass ich mich schon als Student (Du erinnerst Dich an unsere spannungsgeladenen Diskussionen über Gott und die Welt) zu jeder Zeit umfassend über den allgemein vorherrschenden Fortschrittsglauben auslassen konnte. Dass die Menschheit sich aber tatsächlich einmal selbst auslöschen könnte, das stand für mich nie wirklich zur Diskussion. Mit dem unschuldigsten Gewissen sah ich über solche Gedankenspiele hinweg, und wenn mich einmal jemand daran erinnerte, dass es mit der Menschheit irgendwann, in ein paar Millionen Jahren vielleicht, sowieso aus wäre, dann wurde ich ganz schnell selbst wieder zum Fortschrittsgläubigen, denn alles, jede noch so schlimme Horrorvision von der Zukunft, war und ist mir wahrscheinlich immer noch lieber als ein Ende der von mir vorläufig noch immer geliebten Menschheit.
Natürlich stimmt es auch, dass ich schon als permanent den Anschluss verpassender Teenager über die unvorstellbare Ungeheuerlichkeit, oder vielleicht noch besser: unvorstellbar ungerheuerliche Gewalttätigkeit der kosmischen Vorgänge und die auch nicht unbedingt zimperlicher werdenden Zerstörungsweisen der Neuzeit (so wie alle anderen in diesem Alter auch) Bescheid gewusst habe. Beiden aber, den kosmischen Vorgängen wie den Zerstörungsarten, ist es nie gelungen, mich bis ins Innerste zu bewegen, und auch heute schaffen sie das noch nicht.
Gedanklich, kulturell wie geschichtlich gestehe ich beiden Themen gerne zu, zu den wichtigsten und interessantesten auf der Welt zu gehören, persönlich aber keineswegs. Die entscheidenden Probleme sind für den einzelnen, von einer Minderheit von Ausnahmen abgesehen, viel zu weit entfernt, als dass sie ihn noch persönlich treffen könnten, zumal die meisten Menschen (mich nicht ausgenommen) sich viel zu sehr daran gewöhnt haben, sich von allem, was ihnen nicht sofortigen Spaß verspricht, sofern sie nicht einem konkreten Zwang unterliegen, einfach ablenken zu lassen.
So dauerte es lang, bis sich das Unerfreuliche in meinen Gedanken möglicherweise kumuliert hatte, bis mir auf jeden Fall bewusst wurde, was alles geschehen, was alles angerichtet werden kann; und das bei einer Menschheit, die mich, der ich selbst nicht besser bin, jeden Tag aufs Neue in Zweifel stürzt, ob sie nun etwas dazugelernt hat oder ob sie einfach unfähig ist, sich über irgendwas klar zu werden. Und sich deshalb notwendigerweise selbst zerstören muss, wenn sie nicht vorher schon total von Maschinen kontrolliert oder substituiert wird. Unerfreuliche Einsichten, liebe Victoria, die aber leider nun einmal raus müssen.
Leider auch bin ich als Schriftsteller ähnlich schlecht wie Du als Dichterin, Victoria, und so wie Du wahrscheinlich bis an Dein Lebensende Wein auf Rhein und Freud auf Seligkeit weiterreimen wirst, werde ich es auch diesmal nicht hinkriegen, meine inneren Bewegungen deutlich und in einem einzigen Großtext zu erfassen. Ich kann es nicht, und wenn ich es nur halbwegs in den zweiundfünfzig für dieses Projekt geplanten kleineren Arbeiten könnte, dann wäre ich schon froh.
Was dazu kommt, ist, dass Wissenschaft und Faktenarbeit in meiner Praxis nach wie vor kaum mehr als unendliche Anstrengungen darstellen. Du weißt selber, wie elend ich in beiden Disziplinen zu versagen pflege, und wie wenig sie mir (notgedrungen) deshalb auch bedeuten. Es ist eben meine schwache Seite, und dies alles soll Dir als Erklärung genügen, warum diese Texte über das Ende der Welt, oder der Menschheit - für unsereins läuft das beides wohl auf dasselbe hinaus - zum allergrößten Teil nur kurz und literarisch sein werden.
Die Ideen für das Projekt kamen mir, wie ich es kenne, (ein Vorteil meiner intuitiven Arbeitsweise) größtenteils von selbst. Es begann vor etwa einem Jahr, als das Ende der Menschheit eines Tages ganz plötzlich und schlagartig anfing, mich zu inspirieren, ganz ähnlich wie es mir früher schon bei den Distichen und den "Alfred, der Ameisenbär" – Cartoons ergangen ist. An irgendwelche äußeren Anstöße dafür kann ich mich nicht erinnern. Am ersten Tag war es nur ein Einfall gewesen, den ich gar nicht so sehr beachtet habe, am nächsten Tag waren es dann schon fünf, etc. Innerhalb kürzester Zeit stapelte sich so Entwurf auf Entwurf. Als die Eingebungen ein paar Wochen später dann langsam spärlicher wurden und schließlich ganz aufhörten, wusste ich, dass die Vorarbeiten nun abgeschlossen waren, und dass es nun galt, mit aller Kraft in deren Ausführung einzusteigen. Der Verwirklichung des Ganzen standen da allerdings noch die unzähligen Verpflichtungen des letzten Jahres und andere lyrische und epische Pläne, von denen Dir die meisten bekannt sind, entgegen, und haben mich eigentlich bis gestern davon abgehalten. Doch ab heute will ich es nun angehen, und das war in Kürze also mein Plan.

Liebe Victoria, bitte fang bei den Zeilen, die jetzt folgen, nicht zu heulen an. Das Leben wird immer irgendwie weitergehen, und sei es auch nur im Kosmischen und im Spirituellen, und auch wenn dabei alle rührselige Dichtkunst mit der allergrößten vorstellbaren Wahrscheinlichkeit irgendwo auf der Strecke bleibt.
Es ist meine Überzeugung, dass die Menschheit sich, was ihr selbstbestimmtes weltliches Fortkommen betrifft, schon längere Zeit in einer entscheidenden Phase befindet. Irgendwann einmal zu Beginn dieser Phase hat sich der technische Fortschritt in einen Selbstläufer verwandelt, der sich nicht mehr aufhalten läßt, und ohnedies wären die wenigsten Menschen bereit dazu. So wie ich es heute sehe, kann die weitere Entwicklung dieses Fortschreitens nur in drei (beliebig untereinander kombinierbaren) Szenarien münden:

1.   Einem hochtechnisierten Überwachungsstaat in welcher Ausprägung auch immer,
2.   eine größtenteils durch Technik substituierte menschliche Existenz (im psychischen wie im physischen), und Du weißt, was ich alles zur Technik zähle, Victoria, und
3.   einer totalen oder, im glücklicheren Fall, zumindest in ihrem Ausmaß nicht gekannten Zerstörung der Menschheit und ihres Planeten.

Dass die Ausschaltung aller humanen, d.h. der guten wie der schlechten menschlichen Elemente im physischen wie im gesellschaftlichen Körper nun tatsächlich das ist, was so viele Menschen sich wünschen, ist etwas, das ich schon irgendwie respektieren kann, weil ich letztlich ja muss, das ich mir selber zu wünschen aber vollkommen unfähig bin. An schlechten Tagen stürzt mich der Gedanke daran in echte Verzweiflung und ein lähmendes Gefühl des "Von allen guten Geistern-Verlassen Seins". Geht es mir besser, treibt er mich mehr in die Raserei, und nur an den besten Tagen gelingt es mir, halbwegs gelassen darüber hinweg zu sehen.
Möglicherweise geht der Übergang vom Menschen zum Roboter ja aber auch so langsam und fließend vor sich, dass er niemandem wirklich wehtun wird. Auch ich trage ja schon diverse Implantate in und an mir herum. Aber was lasst sich von meinem heutigen Standpunkt aus schon dazu sagen. Was ich sehe, ist, dass die zunehmende Technisierung unser Leben schon seit der Zeit unserer nächsten Vorfahren wie ein Grundbass begleitet. Wir mögen uns mit Politik, kulturellen Dingen, den immer lachhafter werdenden Ausbildungsprofilen und Berufsvoraussetzungen, in besonderen Zeiten vielleicht auch mit unseren inneren Angelegenheiten beschäftigen, die Technisierung unseres Lebens aber schreitet Tag für Tag, schneller und immer schneller voran.
Zugegeben, so viel ist bis heute noch nicht passiert. Die Umweltbewegung, die Kriege und der Terror der letzten Jahre haben Spuren hinterlassen, aber auch diese Momente waren noch viel zu weit weg, um irgendwas zu bewegen, und es war letztlich ein Kinderspiel, sie als Akte aus meinem Gefühlsleben zu verdrängen. Ich kann heute beispielsweise immer noch lachen. Ich kann und darf noch fast alles sagen, obwohl mir die allgemeine politische Korrektheit manchmal wie ein Riesenkalmar vorkommt, der der Welt die Gurgel aus den verschiedensten Richtungen gleichzeitig abzudrücken droht. Aber gesellschaftliche Tabus gibt es ja, seit es Menschen gibt. Und auf irgendeine Art ist es schließlich immer weitergegangen. Andererseits kann in der Informationsgesellschaft die Frage, ob alles übergreifende Tabus überhaupt noch möglich sind, entscheidend werden. Machtausübung in unseren Tagen, wenn sie einmal wirklich hinhaut, wird eine so gewaltige Sache sein wie niemals zuvor in unserer Geschichte. Vielleicht auch wie niemals danach.
Doch wie es auch sei. Der Hauptgrund, warum ich gerade jetzt über das Ende der Menschheit schreiben will, ist vermutlich der, dass mir klargeworden ist, dass ich heute, obwohl das Thema beängstigend aktuell ist, noch so manchen Witz daraus ziehen und selber darüber lachen kann. Und wer weiß schon, wie lange das noch möglich ist? Die Autoren der klassischen Science Fiction oder Leute wie der frühe Douglas Adams, in dessen Werk sich das Vor-die-Hunde-Gehen der Großartigkeit und Naivität einer ganzen genialen Generation dokumentiert, kommen einem heute mit ihrem anthropozentrischen Weltbild schon manchmal so vorsintflutlich vor wie Rousseau oder Eschenbach. Als Borges bei Ernst Jünger wieder mal auf ein paar Flaschen Rotwein vorbeikam, meinte Jünger in etwa (ich zitiere hier aus meinem schlechten Gedächtnis), dass er die Zukunft der Menschheit eher ameisenhaft sehe, woraufhin Borges schmunzelnd, aber doch ein ganz klein wenig scheuklappenhaft meinte, wo denn dann das INDIVIDUUM bleibe. Es ist wie in Raffaels Schule von Athen, nur dass die beiden nicht wie Plato und Aristoteles nach oben und nach unten deuten, sondern Borges nach hinten und Jünger mit wissender Ahnung und einem für seine inzwischen hundertzehn Jahre (oder so) erstaunlich jungenhaften Lächeln nach vorne .
Vielleicht ist der Moment innezuhalten, mit der Menschheit seinen Frieden zu schließen und sich mit ihrem Ende abzufinden aber auch schon längst gekommen. Wenn ich mich recht erinnere, gibt oder gab es einmal Weltanschauungen, in denen die Menschheit von Haus aus als sterblich angesehen wurde. Man vergisst das so leicht in der heutigen Zeit. Viele Menschen hören ihr ganzes Leben lang nichts davon.
Aber auch das soll kein Argument sein. Das Projekt, meine liebe Victoria, liegt mir, von allem anderen abgesehen, wohl einfach am Herzen, so wie all meine anderen Projekte vorher. Es stecken meine persönlichen Eingebungen darin, und als mich nach wie vor irgendwie als "Künstler" empfindender Schriftsteller will ich es eben fertigbekommen und losbringen, auf welche Art dann auch immer.
So viel also zu meinen Plänen. Was machen Deine Versuche in sentimentaler Kalligraphie? Meine Angetraute, Du weißt wie sie ist, äußerte neulich als wir gemeinsam beim heiteren Abendmahl saßen, Jean uns die Suppe servierte und Johnny Blue lautlos seine nasse Schnauze mit sehnsüchtigem Blick über die Tischkante schob, die Ansicht..."

So weit Herr von Rosenstock-Bono in einem Brief an die Dichterin Victoria Rheintaler-Pölz.