Revoir romantique
Sie hatten sich so lange nicht mehr gesehen.
Im Studium noch hatten sie sich zum Spaß die Ehe versprochen für den Fall, daß sie mit dreißig noch nicht verheiratet waren. Dann aber waren die Auslandssemester gekommen, und sie hatten sich aus den Augen verloren.
Jetzt durchwanderten sie Münchens herbstlich-sonnendurchfluteten Englischen Garten.
Trockenes Laub, rot, braun, gelb, lag über die Wege verstreut.
Eigentlich hatten sie beide für diesen Tag andere Pläne gehabt, doch dann hatten ihre Wege einander gekreuzt, und alles war plötzlich so schön, war plötzlich wie verwandelt gewesen.
Sie gingen zusammen.
Sie waren beide fünfzig.
Er war groß und so schlank, dass der breite Schnauzer, den er über dem Mund trug, wie aufgesetzt wirkte. Unter den freundlichen Augen neigte er ein wenig zu Tränensäcken, sein Haar war aschgrau.
Sie war um vieles kleiner als er, sehr dünn, aber nicht geliftet. Ihr Haar war kurz, blond und auftoupiert. Sie war sorgfältig geschminkt, trug ein teures Kostüm und strahlte mit derartiger Intensität, daß sie Schwierigkeiten hatte, ihr Lächeln unter Kontrolle zu halten.
Beide wussten, dass dieser Nachmittag das Schönste war, was sie seit Jahrzehnten erlebt hatten.
In den ersten Minuten hatten sie noch über die alten Zeiten gesprochen, dann waren sie rasch zu privateren Dingen gelangt.
Beide waren nach den Auslandssemestern wieder zurückgekehrt und hatten erfolgreiche Karrieren gestartet.
Beide lebten seit zwanzig Jahren wieder in München, doch sie sind sich nie wieder begegnet.
Sie saßen auf den Stufen des berühmten Monopteros, der auf einer kleinen Anhöhe stand und einen wunderbaren Blick auf die Stadt, den Himmel und nach Süden bis hin zu den Bergen bot.
"Und, hast du mal geheiratet?" fragte er zitternd, und, ohne darüber nachzudenken, sein Innerstes völlig dabei entblößend.
"Zwei Mal." antwortete sie. "Der erste war ein Affe, der zweite ein Idiot."
Sie lachte nervös.
"Ich mein, sie waren beide sehr nett, aber, wie kleine Jungen eben. Sie konnten nie ernst sein. Na ja, das ist alles schon lange vorbei."
Sie seufzte.
Eine kurze Pause entstand. Sie sahen hinaus auf die schöne Stadt, die sich glänzend vor ihnen ausbreitete, auf Theatinerkirche und Feldherrenhalle, auf die prachtvolle Residenz, auf den Hofgarten und die mächtige Staatskanzlei des einflußreichen Regierungschefs.
Dahinter, weit im Süden, erhob sich die Kette der Alpen, unendlich entfernt und doch fast körperlich nahe anmutend. Ursache für diesen Effekt war der Föhn, ein Fallwind, der aus der Levante kam, der manchmal noch nach dem Meere roch, und der die Luft und das Auge der Menschen klärte.
Freilich war es hier nicht wie etwa in Denver, wo einem die Rocky Mountains manchmal gewalttätig und riesenhaft groß erscheinen, so als kämen sie näher und näher, um den Betrachter schließlich niederzuwalzen.
Die Berge hier waren provinziell, so wie fast alles Gute provinziell war in diesem Land. Nichts war von absoluter, unerreichter Monumentalität, alles existierte an anderen Orten in größerer, gröberer Relation. Vieles in der Provinz aber gab ein fein gestochenes, überschaubares Bild des Großen und Ganzen, und einzig die Kunst erhob sich über das vorherrschende, mittelnde Gleichmaß.
Eine kleiner Vis-a-vis, von einem Pony gezogen, rollte zierlich über den Mittelweg des Englischen Parks heran.
Goethe, Wagner, Nietzsche und Schopenhauer saßen darin, wie aus einer anderen Dimension anreisend und nachsinnend in Gespräche vertieft. Was auf Erden unmöglich gewesen wäre, war im Himmel nur eine Frage von Stunden. Sie waren zu besten Freunden geworden, mit Gesprächen voll tiefer Einsicht.
Der Wagen schien von dem mörderischen Verkehr auf der Ludwigsstraße ein paar hundert Meter weiter links nichts weiter wissen zu wollen und verschwand langsam in Richtung Freimann.
"Und du?" nahm sie das Gespräch wieder auf und drehte sich zu ihm hin.
"Ich? Ach, ich!" antwortete er rasch. "Meine Frau ist gestorben. Das ist schon über zehn Jahre her. Hatte Krebs."
"Oje." sagte sie und verstummte.
Beide sahen wieder auf die Berge hinaus. Sie lächelten und folgten beide demselben Gedanken. Da lebten sie in derselben Stadt und gingen fast vor die Hunde dabei und sahen sich in zwanzig Jahren kein einziges Mal.
Aber es war ja noch nicht zu spät. Sie hatten sich gefunden, und sie hatten noch so viel Zeit vor sich...
Über den Alpen begann es zu leuchten, und eine Welle gleißenden Lichtes schwappte über die Gipfel. Halbe Berge sprengten herab, Spitze, Grate, und an manchen Stellen, ganze Täler auffüllend, Lawinen.
Dann plötzlich waren die Berge nicht mehr zu sehen. Man sah einzig noch diese Welle strahlenden, blendenden, einer vernichtenden Bombe entsprungenen Lichts, die sich mit wahnwitzig hoher Geschwindigkeit von Süden her auf die die Stadt und beiden wie erstarrt Sitzenden zubewegte.