Sonntag, 4. Juli 2010

Aus meiner Jugend

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Aus meiner Jugend

Ich verbrachte den größten Teil meiner Jugend ab dem achten Lebensjahr im Internat oder, wie man während meiner ersten Jahre noch dazu sagte, in der Erziehungsanstalt Pippinsruh am Bodensee.
Im großen und ganzen glaube ich, sagen zu können, dass dieser Teil meiner Jugend eine glückliche Zeit war, wiewohl er sich gegen Ende überschattet zeigte von den Nöten der Pubertät und des generellen Vernünftig Werdens. Doch so erging es ja den meisten im Internat, und im Nachhinein fiel es mir im Gegensatz zu nicht wenigen anderen relativ leicht, Abstand davon zu gewinnen und über das damals Durchlebte lachen zu lernen.
Ich gehörte zu den Jungen in Pippinsruh, die außerhalb des Unterrichts gerne auch einmal allein ihren Gedanken nachgingen, meistens jedoch teilte ich meine Freizeit mit meinen Freunden, drei mir etwa gleichaltrigen Knaben, deren Namen f, Konrad und Hippolith waren.
Für lange Zeit lebten meine drei Freunde und ich ein Leben im leichten, selbstgewählten Abseits der Internatsgesellschaft. Uns deshalb als irgendwie geartete Verlierer unseres Jahrgangs zu bezeichnen, wäre indessen falsch. Niemand machte sich lustig über unsere gänzlich unsnobistische Distanziertheit. Wir waren einfach vier Jungen, die sich gefunden hatten und einander genügten. Und unsere Mitbewohner ließen uns, die meiste Zeit wenigstens, halb respektvoll in Ruhe.
Im Übrigen isolierten wir uns nicht vollkommen. Wir nahmen durchaus, Kinder, die wir noch waren, zuzeiten sogar mit Begeisterung, am Internatsleben teil.
Wenn wir vier aber, zehn oder elf Jahre alt, über die Wiesen, durch den Wald oder die breite Lindenallee des Internatsgeländes spazierten, egal zu welcher Jahreszeit, ob es nun schneite oder die Sonne zum Schwimmen einlud, so waren unsere überwiegenden Gesprächsthemen Technik, Wissenschaft und Science Fiction. Stoffe und Inhalte, die für Jungen unseres Alters völlig normal waren. Immerhin waren wir Science Fiction-Kids. Wir hatten "Krieg der Sterne" und "Kampfstern Galactica" gesehen, wir verschlangen die Motorzeitschriften mit ihren immer stärkeren und aerodynamischeren Autos und Motorrädern, wir hatten die dreibeinigen Monster besiegt, wir kannten Godzilla und Mothra, wir hatten alle sechzig Bände der "Was ist Was"-Serie gelesen, die Legionen der Marvel-Helden von Superman bis zu den Fantastischen Vier waren uns besser bekannt als die griechischen Götter oder was sich weiter nördlich um die Weltesche Yggdrasil tummelte. Wir waren Science Fiction-Kids, so wie eben 98 Prozent der anderen Jungen in unserem Alter auch.
An traditionellen Idealen und Männerbildern erzogen, waren ein weiteres unserer Hauptthemen Waffen in jeglicher Ausführung, darunter im Besonderen, da am machtvollsten, natürlich die modernen. Wen hätten die Atompilze im Fernsehen nicht fasziniert, die hunderttausend toten Japaner, die weit weg in der Vergangenheit und am anderen Ende der Welt auf einen Schlag ihr Leben verloren hatten. Selbstverständlich waren wir angezogen von der Macht, die einem einzelnen Menschen in die Hand gelegt werden konnte, so wie die Jungen früherer Zeiten fasziniert waren von der Möglichkeit, einem Menschen mit einem gezielten Schwerthieb zu überwältigen oder mit einem einzigen Flintenschuß einen Vogel vom Baum zu holen. 
Es ist für Jungen unseres Alters zu allen Zeiten erregend gewesen, über diese Dinge zu sprechen und nachzudenken, und all unsere vorpubertären Jahre über waren die verschiedenen Waffen und Tötungsarten des Menschen immer wieder Gegenstand unserer Unterhaltungen. Wir malten uns die herrlichsten Explosionen aus, Zielfernrohre, die auf Kilometer Entfernung zentimetergenau zielten, einstürzende Häuser auf Knopfdruck, unsympathische Menschen, die von einer Sekunde auf die andere ins All katapultiert werden konnten, und so fort.
Wenn wir nachts in unseren Betten lagen und still zu sein hatten, dann hatten wir natürlicherweise ebenso Lieblingsthemen, mit denen wir uns hingebungsvoll, bis der Schlaf uns geholt hatte, zu beschäftigen pflegten. War es kalt, so stellten wir uns vor, in der Schlafkoje eines supermodernen Raumschiffs zu liegen. Wir fühlten uns wie die größten Helden dabei. Draußen im All hatte es minus 270 Grad, doch wir trotzten der übergewaltigen Natur mit unserer geheizten Schlafkoje. War es Sommer und warm, so lotste unsere Phantasie uns auf einen roten mediterranen Planeten, wo wir mit atemberaubender Geschwindigkeit Rennen bestritten, die wir nach hartem Kampf so gut wie immer gewannen. Stets war die Sonne auf diesem Planeten am Untergehen, und Hunderttausende jubelten uns dabei zu.
Wurden wir mal verdroschen, und solange es Jungen gab, die stärker waren als wir, wurden wir alle hin und wieder verdroschen, ich kann mich erinnern, wie f, der ein sehr eigenwilliger Charakter sein konnte, eines Abends von ein paar Jungen aus der Abiturklasse in den Wald getrieben wurde und erst ein paar Stunden später, lange nach Zapfenstreich, zum Fenster wieder hereingeklettert kam. Selbst die Hosen voll vor Angst, hatten wir sein Bettzeug ausgestopft, damit die Erzieher seine Abwesenheit nicht bemerkten. f hatte ein blaues Auge und Blutergüsse zogen sich seinen ganzen Rücken hinunter. Bauchkrämpfe schüttelten ihn, ja, er konnte kaum noch gehen in dieser dunklen Nacht. Sie hatten ihm so fest in die Eier getreten, wie es Achtzehn- bis Zwanzigjährige mit gutem Gewissen eben gerade noch konnten.
Wurden wir also mal geschlagen oder auf andere Weise von irgendjemandem schikaniert, so stellten wir uns in unseren nächtlichen Phantasien natürlich vor, wie wir es dem- oder denjenigen so richtig heimzahlten, mit einem durchtrainierten Körper, mit durch Hi Tech-Maschinen oder Außerirdische beschleunigtem körperlichem Wachstum, oder mit den raffiniertesten Waffen die wir uns ausdenken konnten.
Als ich älter wurde, habe ich mich immer wieder gefragt, in wie weit sich diese Vorstellungswelten der Jugend auf unser Erwachsenendasein ausgewirkt haben.
Mir persönlich ist es wohl gelungen, mich durch beständige und möglichst schonungslose Selbstreflexion halbwegs von aller erlittenen Grausamkeit zu distanzieren.
Hippolith, ein Charakter, der schon immer eher alles in sich hineinfraß, fand über extremen Sport und Leibesertüchtigung zu innerem Gleichgewicht.
Konrad fand Zuflucht im höheren Dienst und einer undurchdringlich gewordenen reaktionären Geisteswelt. Wenn er mit seinen Freunden alleine ist, dann sind Blut und Eisen seine Lieblingsparolen, und Bismarck schwebt als Halbgott in Weiß, mit einem Säbel um die Hüften und Stulpenstiefeln unerreichbar hoch über ihnen an der getäfelten Zimmerdecke.
Doch was konnte aus jemandem wie dem in seiner Kindheit schon von Albträumen geplagten f werden? Seit zwanzig Jahren hat niemand mehr etwas von ihm, der wahrscheinlich intelligenter und begabter als jeder andere Junge seines Alters auf diesem Planeten war, gehört.
Oft, in Momenten des Pessimismus und der Niedergeschlagenheit frage ich mich: Wie wird ein Genie sich äußern, das von allen Seiten gewalttätig unterdrückt wird und wurde, und dem die technische Entwicklung eine immer größere physische Macht in die Hände legt?