In der Dusche
Es war wieder eine der Phasen, während der ich, so wie ungefähr fünf Mal am Tag, eine sich länger und länger hinziehende Zeitspanne unter dem warmen Strahl meiner Dusche verbrachte.
Ich hielt die Augen geschlossen. Kaskaden großflächig strömenden, wärmenden Wassers glitten über meinen Kopf, meine Stirn, meinen Rumpf, meine Arme und Beine hinweg. In meinen Ohren toste und brauste es wie unter dem prächtigsten Wasserfall einer paradiesischen tropischen Insel. Meine Sinne waren wie nach außen verschlossen in diesen kostbarsten Minuten des Tages. Alles was ich spürte war angenehm, die Wärme, das Strömen des Wassers, das Geräusch fließender Flüssigkeit.
Wie stets in diesen Phasen nahm ich mich nur noch als ein kleiner, höchst zufriedener Teil der großen, mächtigen, mir freundlich gesonnenen Natur wahr, und so wie jedes Mal empfand ich es als riesenhafte persönliche Kränkung, als ich das Bewußtsein erlangte, daß es Zeit war, die Augen endlich zu öffnen und den Wasserstrahl wieder abzudrehen. Doch niemand darf ewig unter der Dusche bleiben.
Ich zog den Vorhang zurück. Eine kalte Stille empfing mich. Das Badezimmer wirkte kahl, die Kacheln bleich hinter dem gräulich wabernden Dampf. Der Raum war häßlich, frostig und abstoßend. Tatsächlich hätte ich nichts lieber gewollt, als mich sofort wieder in die Dusche zu stellen. Hastig trocknete ich mich ab, um diesem tristen Zustand so schnell es ging zu entfliehen.
Da wurde im Freien plötzlich ein neues Brausen laut, ganz ähnlich jenem, das mich bis vor kurzem noch so beglückt hatte. Ich schob den alten Blümchenvorhang vor dem Fenster zur Seite. Das ganze Land leuchtete golden und gelb. Warmer Dampf drang zischend durch die Ritzen des alten Fensters, das ich eigentlich schon vor zehn Jahren hätte austauschen lassen müssen. Es tat gut, die Wärme zu spüren. Und alles war besser als mein verachtungswürdiges Badezimmer. Vor Wonne seufzend hielt ich meine Handinnenflächen an den wärmenden Dampf.
Das Fensterglas schmolz, und ein Loch bildete sich darin, das, rasch wachsend, größer wurde. Ich warf einen Blick hinaus.
Das Brausen war mittlerweile einem Brüllen gewichen, welches gleich eintausend Düsenjets allein durch sein physisches Dasein die Landschaft und meine Wahrnehmung in seiner Gewalt hielt.
Ich sah nach links. Die Bäume brannten, kein Mensch war auf der Straße zu sehen, irgendwo blinkte verlassen ein Warnlicht.
Ich sah nach rechts. Eine Welle, unvorstellbar groß und so breit wie der Horizont rollte auf mich zu. Es war ein phantastischer Anblick. Allgewaltig, gleich einer himmlische Raupe, gleich einem bunten Boten des Paradieses schob sie Berge, Täler und Seen vor sich her. Sie war gekommen, um mich zu holen. Meine Leidenszeit war endlich vorbei, und ich durfte aufgehen im Schoße der mütterlichen Natur. Überglücklich riß ich die Tür meines Bads auf, hastete meine knarzende und längst renovierungsbedürftige Holztreppe hinunter nach draußen und stürzte keuchend der Welle entgegen.