Vermutlich rundeste und geschlossenste der mit einem Kommentar aus dem 21. Jahrhundert und mit dem Titel "Aus der Welt des 21. Jahrhunderts" versehenen Arbeiten.
Schauplatz der Handlung: Eine reaktionäre Beziehungsagentur in der Zukunft.
Passagenweise die Gag-Dichte sehr hoch, sogar ein Beckenbauer-Witz wurde lohnend und nicht ohne Doppelbödigkeit untergebracht.
Aus der Welt des 21. Jahrhunderts
Wie wir uns kennenlernten
Es war ein traumgleicher Sommermorgen. Ich saß im Speisewagen des Schnellzugs München-Augsburg und hielt, während die Kellnerin mir das Frühstück servierte, meinen Blick aus dem Fenster gerichtet. Die Sonne, die sich im Osten gemächlich über den Horizont erhob, tauchte die Landschaft in verzaubertes Licht. Kleine verschlafene Dörfchen zogen vorüber, üppig goldene Weizenfelder, hochgewachsener Mais, dessen Kolben, Zeichen ihrer angehenden Reife, wie kümmernde Ärmchen schräg in den Himmel ragten.
Aus den Lautsprechern zwitscherten Vögel fröhlich ihr Morgenkonzert.
Die Kellnerin gefiel mir. Fachmännisch schenkte sie mir meinen Schonkaffee ein. Geübt bediente sie den Eierköpfer. Ihr Lächeln war keineswegs geheuchelt, es kam von Herzen, wie ich mit der untrüglichen Menschenkenntnis, wie sie allen wahren Vertretern meines Berufsstandes zueigen ist, sofort erkannte.
Sie gefiel mir ausnehmend gut. Schlank, großgewachsen, die Hüften schmal, der Haaransatz ungewöhnlich kräftig. Ihr Gesicht umgab eine Aura von Zeitlosigkeit. War sie erst zwanzig, gerade eben beginnend, die Welt um sich und ihren Körper bewusst wahrzunehmen, oder war sie fünfzig, in der Seele gezeichnet von zahllosen Erlebnissen, Abenteuern, Enttäuschungen, schmerzvollen Erfahrungen und Leidenschaften, die selbst den Ansprüchen einer Fürstin Genüge geleistet hätten?
Ich betrachtete ihre Stirn, die glatt und zart war, jedoch keine Codenummer trug. Die Schöne schien somit keiner Agentur anzugehören und war momentan wohl vergeben...
Oh, glückseliger Unbekannter, der du diese Perle fandest unter der Unzahl unwürdiger Möchte-nun-auch-so-sein-Damen!!
Während ich mit genussvoller Langerweile mein Frühstück verzehre, durchquert der Zug die Vororte von Augsburg. Harmonisch fügen sich die alten Kleinbürgerhäuslein mit den neuerrichteten Solarblöcken und Ladenzeilen zu einem Herz und Gemüt ansprechenden Äußeren. Die Sonne leuchtet bereits kräftig durch die Straßen und der Himmel, weißblau wie unsere Landesfarben, lässt den nachdenklichen Menschen sich erinnern an vergangene, bessere, selbstbewusstere, an königliche Zeiten.
Mit beendetem Frühstück fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Ich nahm Aktenkoffer, Trench-Coat, warf meine Lodenjoppe über die Schulter, wanderte gelassenen Schrittes zur Waggontür und stieg aus.
Eine milde Brise wehte über den Bahnsteig. Geschäftsleute tummelten sich und schlugen rasch den Weg zu den Taxis ein, blutjunge Tramperinnen und Studentinnen warfen sehnsuchtsvolle Blicke auf Männer, die nach dickem Porte Monnaie rochen. Auch ich fiel ihnen sofort in die geschminkten Augen.
Hübsche Häschen, dachte ich mir, mehr aber auch nicht.
Natürlich wusste ich, dass all die Backfischchen, die am Bahnhof herumhingen, zu schlecht für die Agenturen waren, oder einfach drogenabhängig. Immerhin, einige konnten es gut vertuschen. Wer weiß, wenn ich bei Lulu nicht fündig würde, vielleicht würde ich des Abends mit einem dieser bitter-süßen Käferchen noch einen Blick ins Foyer des Intercity-Hotels werfen.
Ich schlenderte, tief die gute, würzig-bayerische Luft einatmend, zum Kiosk und kaufte mir ein Päckchen Monarch-Zigaretten. Schon beim ersten Zug wurde mir mit erschütternder Klarheit bewusst, wie sehr diese südbayerische Marke für mich Heimat bedeutete, wie viel mir die Heimat selbst bedeutete.
Ich stieg die Treppe vom Ausgang zum Vorplatz hinab. Die beiden Löwen, die wachend zu Seiten der Treppe mit bedrohlich aufgerissenen Lefzen saßen, ließen mich lächeln, gaben mir aber auch unbewusst ein Gefühl von Sicherheit, ähnlich wie jene altersweisen, freiheitsmutigen Leun der mächtigen Münchener Feldherrnhalle, die nun schon seit Jahrhunderten die dort thronenden, glanzvoll in Bronze gegossenen Heerführer behüten.
Auf einen Wink von mir schnurrt ein Taxi heran.
"Zu Madame Lulu." sage ich, und die Chauffeuse, eine etwa siebzigjahrige Brünette mit dem Ehrenzeichen der Kling-Agentur, steuert mit geübten Handgriffen auf die Straße.
Nach etwa einer Minute zurückgelegten Weges durchqueren wir den neuangelegten Ingeborg-Ränderbländel-Park. Mächtige Königssequoyas stehen hier in geschmackvoller Anordnung neben Lindenbaum, Ahorn und der Hecke, dem Lieblingsbaum unseres ehemaligen Kaisers Franz Beckenbauer.
Inmitten dieses von sattem Grün und Braun träufenden und von hoheitlichem Weiß-Blau beschimmerten Idylls kreuzt mein Taxi eine Gruppe etwa hundertundfünzig edler Laufmädel. Sie alle tragen die goldfarbenen Höschen und Stirnmale der Agnetha-und-Anathefka-Agentur, einem der besten Häuser hier am Platz. Sittsam wippen ihre maßgerechten Brüstchen im Takt des federleicht hüpfenden Gleichschritts.
Für einen Moment verliere ich mein Ziel aus den Augen...
Aber nein! Diese Görls kenne ich zur Genüge. Sicher, gut erzogen, internationales Flair, sehr genügsam oft, aber wie schnell wird man ihrer müde! Wie schnell wird man doch gewahr, dass ihre Heimat ganz woanders liegt, dass in ihren schlanken Körpern ein schales Feuerchen brennt, das beständig und immer stärker ruft: Nach Hause!! Sie sehnen sich nach einem Leben, das ihrer Geburt, ihrem Volke entspricht, nach einem leichteren Leben, einem Leben, das weniger von Schwere, Disziplin und hoher Geistigkeit bestimmt ist, das weniger im übermächtigen Licht unserer Heimat und der göttergleichen Kunst Richard Wagners besteht. Es ist wahr, nur die wenigsten sind hierzu geschaffen, die allerwenigsten sind Frauen und leider, fast nur die bayerisch-deutsche Frau ist dazu fähig.
Zwei Minuten später und die Länge einer Monarch weiter erreicht der BMW das alte Fugger-Haus, den Sitz Madame LuLus.
Ich bezahle großzügig, wissend, mit welchen Renten die Ladenhüterinnen der Agenturen abgefertigt werden, die Portiere eilt herbei und öffnet schwungvoll, aber nicht überhastet die Türe.
Ich steige aus.
"Grüzi, der Herr!" sagt die Portiere ganz unbekümmert, ihren Schweizer Akzent selbstbewusst nicht mit Schriftdeutsch überschattend. Das Mädel gefällt mir!
Ich stelle mich vor, zücke bescheiden meine Karte.
"Madame empfängt sie persönlich." spricht die Portiere mit niedergeschlagenen Augenlidern. Ich lächle, begebe mich zum Eingang, das Mädel folgt unauffällig. Im Umdrehen lese ich noch den Namen neben der Codenummer auf ihrer Stirn. Vreni! Ich möchte sie küssen.
Man erkennt LuLus Erziehung. Vreni spürt meinen Wunsch. Am Eingang angelangt reckt sie mir bescheiden ihre geöffneten Lippen entgegen. Ich küsse sie lang und fest, gebe großzügig Trinkgeld und schreite ins Haus. Vreni wendet, mit makellos weißen Zähnen lächelnd, ihr zöpchenumspanntes Köpfchen und harrt pflichtbewusst der erwarteten Kunden.
Am Empfang erwartet mich bereits Madame LuLu, ihr zur Seite die knackig rothaarige, sommerbesprosste Empfangsdame.
"Mein 'err, wie schön sie wiederzusehen." ruft Madame voll Entzücken und drückt mir hochachtungsvoll Küsschen auf beide Wangen.
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Madame." erwidere ich, indem ich mich halb verbeuge.
Sogleich führt Madame LuLu mich in den Salon und erkundigt sich diskret nach dem Grund meines Erscheinens, während sie oberflächlich ganz charmant über Industrie-Katalysatoren plaudert. Ich gebe bereitwillig Auskunft.
Wir nehmen beide in den bequemen, mit rotem Sammet überzogenen Sesseln Platz, indessen Madame über ein in ihrer Frisur verborgenes Mikrofon kurze, prägnante Anweisungen gibt.
Die fünf Sitzreihen, die aus fünfundzwanzig bequem verteilten, identischen Sesseln bestehen, sind leer, bis auf die beiden von uns occupierten Sitze und einem Platz in der letzten Reihe, in der ein völlig betrunkener Finne mehr liegt als sitzt. Madame und ich ignorieren ihn. Ohne uns darüber verständigen zu müssen, wissen wir beide: Nur sein Geld brachte ihn hierher.
Vor uns liegt der Laufsteg, fünf Meter breit, siebzehn Meter lang, Parademaß, ausgelegt mit azurnem Atlas und aufgespritzten weißen Farbklecksen, die Nationalfarben des Vaterlandes. Madame durchschaut meinen Blick, sie weiß, ich schätze ihren Stil, obwohl sie gebürtige Französin ist.
In diesem Moment hebt aus dem dezent verborgenen Lautsprechersystem gepflegt swingende, an klassische Zwiefache erinnernde Agenturmusik an. Ich erkenne Bewegungen hinter dem Vorhang, und schon tritt die erste Kandidatin heraus.
"Bettina!" flüstert mir LuLu ins Ohr."Ich biete sie erst seit zwei Tagen im Hauptprogramm an, und lang wird sie wohl nicht mehr bleiben..."
"Das kann ich mir lebhaft vorstellen." pflichte ich bei, indem ich ruhig meine Unterlippe knete und im Geiste Bettinas Maße nehme. Excellente Qualität. Lang, blond, ein Lächeln wie ein Sonnenaufgang im Hochgebirge. Der Dirndlbikini steht ihr vorzüglich.
"Was kann sie so?" frage ich betont unbeteiligt, während Bettina sich schwungvoll und mit gutem Rhytmusgefühl vor meiner Nase im Kreise dreht.
"Agraringenieurin." beginnnt LuLu aufzuzählen. "Erbte einen Vierhundert-Hektar-Bauernhof. Seit zwei Jahren Geschäftsführerin der Mieder-Düngemittelwerke AG."
Nicht schlecht, aber wer kann wissen, was noch kommt? Immerhin sind hier Entscheidungen für die "Ewigkeit" zu treffen. Ich setze Bettina auf die Warteliste und LuLu gibt Anweisung, die nächste Kandidatin hereinzulassen.
Der Vorhang fliegt hoch und auf tritt "Brünnhilde", mit wallendem braunem Umhang, brauner Leinenleibwäsche und einer Art Wikinger-Eselskappe.
Noch bevor ich mich vorsichtig räuspern kann, stellt 'Bruni' sich vor mich hin und keift:
Oh ja,
Ihr seid's wirklich,
Mit Knien wie Ambosse
Und Muskeln wie unreifes Obst!
Was mir an Euch gefällt?
Nichts!!
Höchstens Eure Hirne, die mit
Stecknadeln konkurrieren.
Wutschnaubend und mit Kuhaugen glotzt Brünnhilde mich an.
"Das ist doch nicht ihr Ernst?" wende ich mich so hilfesuchend wie auch unsagbar erheitert an LuLu.
"Nein" lacht LuLu mit vorbildlicher Zurückhaltung und immer noch mit, trotz ihres Alters, attraktiv aufwärts gewölbter Oberlippe. "Brüni ist nur ein Gag. In Wahrheit heißt sie Marlene, ist Schauspielschülerin und verdient sich gelegentlich bei besonders gern gesehenen Gästen durch diese kleine Rolle ein bescheidenes Zubrötchen."
Ich nehme das Kompliment geschmeichelt mit dem Kopfe nickend an und lache schallend los ob dieses köstlichen und überraschenden Uzes.
Marlene verbeugt sich augenzwinkernd und tänzelt hinter die Bühne zurück. Noch völlig erhitzt von Spaß und Effekt der Überraschung erwäge ich, Lulu zu fragen, ob nicht auch Marlene bei Bedarf noch zu werben sei.
LuLu ahnt, woran ich denke.
"Ich bedaure" seufzt sie. "So gern ich sie in mein Sortiment aufnähme, Marlene ist bereits versprochen, an einen entzückenden jungen Schauspieler, der keinen Pfennig in der Tasche trägt."
Ich ziehe fragend eine Augenbraue, aber Madame LuLu bedauert nun entschieden:
"Es tut mir leid, Monsieur Schleif, aber in diesem Fall ist absolut nichts zu machen."
Ich gebe mich sanft lächelnd zufrieden, stecke mir noch eine Zigarette an. Wozu Diskussionen? Frauen sind käuflich! Zu viele Schwestern Madame LuLu's haben mir dies in meinem Leben bereits bewiesen! Doch ich lasse mir nichts anmerken. LuLu spricht neuerlich Anweisungen ins Mikrofon.
Aus LuLu's wissend verkniffenen Lippen schließe ich, dass sie nun ihren größten Trumpf auf die Planche holt und unwillkürlich setze ich mich auf.
LuLu's Ruf als beste Kupplerin im Lande kommt nicht von ungefähr, und wenn sie jemanden so gut kennt wie mich, dann ist sie es, die meine Frau fürs Leben kennt.
Die Scheinwerfer verdunkeln sich, der Vorhang hebt sich. Es erscheint---eine Silhouette zuerst. Der Spot fliegt an.
Schon im ersten Moment bin ich geschlagen, gefesselt, kampflos besiegt, K.O. mit dem ersten Gongschlag.
Dieser Körper, dieses dunkelblonde Haar, unbeschreiblich, ihr Blick, ihr Gesicht...
"Sie, und keine andere!" will ich schon rufen, aber LuLu ist noch im Zweifel und legt gehörig nach.
"Eva!" flüstert sie mit einer Stimme wie Blütenhonig, zu mir herübergebeugt. "Tänzerin, Millionenerbin, bis zum heutigen Tage war nur die Ar-beit, und nichts als die Ar-beit ihr Interesse."
Mir wässern die Mundwinkel. Was will ich mehr? WAS WILL ICH MEHR?
LuLu ahnt das gute Geschäft, geht auf Nummer sicher, setzt noch einen drauf: "Mein 'err, vor ihnen liegt ein unbestelltes Feld..."
"Wieviel?" frage ich mit Maskengesicht, die stieren Augen auf jene beinah biblische Eva gerichtet, die im Handstand gerade einen Spagat vollführt.
"Ich bin mir sicher, wir können eine schnelle Einigung erzielen, Monsieur Schleif, auch wenn eingedenk der hervorragenden humanistischen und musikalischen Ausbildung, welche Mademoiselle Eva genoss, der Preis angemessenerweise sich in höchsten preislichen Regionen bewegen muss."
"LuLu, du kennst meine Brieftasche." sage ich wie paralysiert.
Nun ist Madame zufrieden und klatscht kurz in die Hände, woraufhin Eva ihre Übungen beendet, sich umdreht, ihr Badekostüm aus wenigen Feigenblättern, das ich in diesem Moment wie nichts auf der Welt beneide, im Innern eines ihren Körper umschließenden, rotglänzenden Umkleide-Kaftans ablegt und ihre wichtigsten Körperteile mit rotseidener Leibwäsche bedeckt.
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