Freitag, 20. August 2010

Wie wir uns kennen lernten - Teil 2



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Die Preisabmachung, jene etwas kindische und dem Gegenstande eigentlich unwürdige Feilscherei, die in allen guten Agenturen Tradition hat, findet in Madames privatem Büro statt.
Dunkelblaue Atlasseide überall von den Wänden hängend, Vorhänge ersetzend, ein Mohr aus purem Gold, auf dessen dargereichtem Tablette köstlichstes Kaufbeurener Konfekt aufliegt, kostbare Drucke von Bosch und Bacon auf ausladenden Staffeleien und an den Wänden hängend, ein Meer von Schmuck und Accessoires, deren Beschreibung Tage und viele Dutzend Seiten in Anspruch nähme.
LuLu spielt mit einer glänzenden, frisch geschmierten Lederknute aus dem alten Rom.
"Eine Million" sagt sie.
"Zehntausend, mein letztes Wort." meine Erwiderung.
"Einhunderttausend!" sagt LuLu und klopft wütend auf den Tisch.
"Ich bitte sie, LuLu." lache ich. "Eva ist eine Frau, sie sind eine Frau. Zehntausend und keinen Pfennig mehr."
LuLu starrt auf ihre Schreibunterlage mit Neuschwanstein-Motif. Sie atmet schwer.
"Zwanzigtausend" knurrt sie wie eine Wildkatze.
"LuLu!" warne ich gebieterisch und packe sie fest mit meiner Linken an ihrem linken Handgelenk. "Ich habe nicht ewig Zeit! Ich bin Künstler."
"Au, sie tun mir weh!" quietscht die immer noch quirlige Französin. "Sie Scheusal! AAArgh!"
"Na gut, zehntausend." keucht sie schließlich.
Ich lasse schnaubend von ihr ab. Manche Traditionen ekeln echte Männer an.
Ich ziehe einen Scheck aus der Tasche, auf den ich bereits vorher den für mich feststehenden Preis notiert hatte.
LuLu bedankt sich und versteckt den Scheck am unsichersten Platz im ganzen Haus, in ihrem weitem Ausschnitt. Ihre Stimmung normalisiert sich wieder.
"Verhandlungen mit ihnen sind für mich immer wieder ein Genuss, Monsieur Schleif." schwärmt sie.
"Der Genuss ist ganz auf meiner Seite." gebe ich noch etwas herrisch, aber schon wieder mit erkennbarem Schalk zurück.
Plaudernd bewegen wir uns in Richtung Ausgang, wo wir kurze Zeit warten müssen, weil Eva sich noch mit Packen beschäftigt. LuLu beklagt sich etwas übers Geschäft.
"Ach," seufzt sie "all die jungen Männer heutzutage, sie glauben, die Auswahl und Erziehung schöner Frauen würde nichts kosten, sie denken, es wäre umsonst, so wie in ihren Computersimulationen!"
"Ja, die Zeiten sind arg." pflichte ich bei.
"Ich musste mir schon Wachmänner anstellen, um meine Mädchen angemessen zu beschützen. Wachmänner sind nicht billig, aber wenn ich daran denke, dass eines meiner Mädchen von einem dieser Schurken entführt werden könnte...in die Mongolei, oder gar nach Sibirien!"
Erst jetzt fallen mir einige Männer, die sich geschickt, mit Maschinengewehren und Panzerfäusten bewaffnet, hinter Bäumen, Hecken und Hausecken verstecken, ins Auge. Niemand würde sie auf den ersten Blick erkennen. Es müssen wirkliche Spezialisten sein. Die Männer an den Hausecken tragen Kleidung und Hautcreme in der Farbe der Hauswand. Ein verblüffender Effekt.
Ja, die Zeiten sind mühsam und schwer, indes: Ist es nicht ein gutes Gefühl zu wissen, dass das sittlich Gute noch immer weit klüger, ästhetischer und gewinnbringender agiert als der Abschaum? Ohne Zweifel würden die Männer jeden verdächtigen Streuner in LuLu's Garten umgehend kaltstellen.
"Und Sandra?" fragt LuLu diskret. "Es hat wohl nicht so gut geklappt?"
Sandra ist meine geschiedene Frau. LuLu hatte sie mir vor etwa drei Jahren vermittelt.
"Nun ja," lächle ich "es war nicht ihre Schuld, LuLu. Man lebt sich auseinander. Wir hatten eine herrliche Zeit, und nun ist sie vorbei. Das Leben geht weiter."
Wir verharren einige Momente in Schweigen.
"Und was macht Sandra jetzt?" fängt LuLu wieder an. Sie weiß genau, dass Sandra noch immer der Star ihrer Agentur wäre.
"Sie hat wieder geheiratet. Einen Talkmaster. Benny Dumm. Den Dümmsten und den Reichsten."
LuLu nickt verstehend und sagt nichts mehr.
Im nächsten Augenblick walzt Eva heran, zwei riesige Koffer unter ihren Armen und eine ausgebeulte Reisetasche um ihren Hals geschlungen. Ihr Kopf leuchtet rot, wohl weil die Tasche ihr den Hals abdrückt.
"Entschuldige Liebling." haucht sie und drückt mir einen zarten Kuss auf die Wange. "Entschuldige die Verspätung, ich musste noch alles zusammenpacken, du kamst aus so heiterem Himmel..."
"Es ist schon in Ordnung, Liebes." tröste ich sie. "Aber jetzt drängt die Zeit. Wo steht dein Auto?"
"Da, vor der Einfahrt." sagt sie und deutet angestrengt mit ihrer linken Hand.
Ich drücke LuLu ein Trinkgeld in die Hand, Eva verabschiedet sich von ihrer alten Erzieherin noch mit Küsschen und Tränen. Eine Minute später schlendern wir zu Eva's BMW Beauty 2001.
In kurzer Zeit hat Eva ihr Gepäck verstaut, und schon brausen wir los.
Während Eva lenkt, sieht sie immer wieder verliebt zu mit rüber. Sie kann sich kaum losreissen, was im Stadtverkehr nicht ungefährlich ist.
"Schau lieber auf die Straße!" lache ich. "Sonst demolierst du noch irgendwas!"
Eva bricht ebenfalls in Gelächter aus. Ihr Humor stimmt, denke ich mir.
Später, wir befinden uns bereits in voller Fahrt über die Autobahn, werde ich langsam schläfrig.
"Ruh' dich nur aus, Liebling." haucht Eva und zieht mir eine weiche Wolldecke über den Körper.
Wir fahren einer wunderbaren, gemeinsamen Zukunft entgegen. Noch während ich einschlafe denke ich an morgen. Eva glaubt, sie müsste zur Arbeit, weil am Abend die Uraufführung ihres neuen Balletts in einem Avant-Garde-Theater gezeigt wird. Nun, sie wird nicht zur Arbeit müssen, denn morgen werden wir getraut, in Schloss Linderhof, jener prachtvollen Anlage, in welcher unser Märchenkönig, wären ihm denn noch ein paar Jahre weiteren Lebens vergönnt gewesen, vielleicht ebenso vor den Traualtar geschritten wäre.
Wie Eva sich freuen wird!


Sie lasen: 'Wie wir uns kennenlernten' von Josef Schleif.


Der Text, der in den Vierziger Jahren des 21. Jahrhunderts in "Traumjungs, dem Science Fiction-Magazin für Männer mit dem gewissen Etwas" erschien, vermittelt deutlich, in welcher Situation ein Großteil der männlichen Bevölkerung Mitteleuropas sich zu jener Zeit in Beziehung auf das andere Geschlecht befand.
Rufen wir uns in Erinnerung: Das 21. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Übergangs, so zerrissen wie vorangetrieben von den Schwächen und Gegensätzlichkeiten des größtenteils noch originären menschlichen Körpers. Die Schlagworte jener Zeit lauten: Wachsende Überbevölkerung durch vorherrschende und kaum kontrollierbare Mutterleibsschwangerschaft, daraus folgender Nahrungsmangel, weiter gesteigert durch unwirtschaftliche, größtenteils natürliche Produktion von Lebensmitteln, Überalterung der Gesamtbevölkerung bei gleichzeitiger biologischer Verjüngung älterer Bevölkerungsschichten, Kampf der Robotik mit dem Ziel vollkommener gesellschaftlicher Anerkennung, Zwang zur Unterdrückung irrational handelnder und eine Gefahr darstellender Teile der Weltbevölkerung, beginnender Weg zu allgemeiner Glückseligkeit zirka ab dem Jahr 2099.
Ein Problemfall blieb auch im 21. Jahrhundert die Geschlechtertrennung mit ihren Möglichkeiten, zahllose Irrtümer, Fehlleistungen und Konflikte zu generieren. Wie in Urzeiten waren Frauen noch Frauen, Männer gezwungen, Männer zu sein. Die Möglichkeiten nämlich, Geschlechter zu adaptieren, zu addieren oder gar umzukodieren, zeigten sich damals noch sehr mangelhaft und waren nur im äußersten Notfalle zu empfehlen. Somit herrschte faktisch Geschlechterzwang.
Wie äußerte sich nun diese Geschlechterdifferenz?
Im Lauf des 21. Jahrhunderts war die Gleichberechtigung der Frau endlich und erstmals wieder zu gesellschaftlicher Faktizität gelangt. Das Patriarchat, das die offizielle Geschichte fast der gesamten Welt vorher über mehrere Jahrtausende dominiert hatte, war im Verlauf von nur kurzer Zeit, etwa 130 Jahren nämlich, größtenteils verschwunden, es hatte sich im Verlauf von gut hundert Jahren fast zur Gänze aufgelöst. Diese historisch gesehen rasche Entwicklung, die anfangs nur wenig beachtet, ja oft als Aufschrei von Gesetzlosen und Außenseitern betrachtet worden war, zeitigte nun, an ihrem Ende, Auswirkungen von höchster Schlag- und Eindruckskraft, zur Überraschung so manchen Mannes.
An die höchsten Stellen von Häuptling, König, Kanzler, Magnat oder Manager traten nun plötzlich vermehrt und mit gleicher Kraft Häuptlingsfrau, Königinin, Fraukanzler, Magneta oder die examinierte Betriebsverwaltungsfachleiterin.
Da die Frau, jenes Geschlecht, das sich lange unter der Vorherrschaft des Mannes bescheiden hatte müssen, nun Gelegenheit bekam, sich frei zu entfalten, zeigte sich, dass Frauen, unter diesen neuen Voraussetzungen, in vielen Gebieten dem Manne gleichwertig, nicht selten sogar fähiger waren. Frauen drangen vor in die Spitzen der Politik, zeigten sich kulturell engagiert und oft wegweisend, sie dominierten mit Hilfe neuer chrirurgischer Methoden sogar die sportlichen Ligen der Welt. Es war eine Frau, nämlich Susan Ben Hildesheimer, die mit ihren Techno-Steps den Hundert-Meter-Weltrekord erstmals auf unter acht Sekunden schraubte. Große Erfindungen gelangen nun ebenso Frauen, sie führten die großen Konzerne der Welt und manchmal durchaus nebenbei noch immer den Haushalt. Man denke nur an Roswitha Dorfhuber, der legendären Solarmagneta von Zwiesel. Es besteht kein Zweifel, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der sich unaufhaltsam entfaltenden Frauenpower, oder, wie die Zeitung "Supergirl-BILD" es einmal nannte, "Frower" war.
Viele Männer befiel in jener Zeit eine existentielle Leere. Was sollten sie tun, wenn sie nicht mehr zu bestimmen hatten? Woran sollten sie sich freuen, wenn sie ihre Frauen nicht mehr terrorisieren konnten, wenn im Fernsehen und auf dem Sportplatz die Helden plötzlich Frauen waren und Männer immer mehr die Verlierer?
Bedenken wir noch einmal: Im 21. Jahrhundert wurden die Menschen noch ohne Zwitterfunktion geboren. Sie war noch nicht einmal bekannt. Viele Jahre mussten noch vorübergehen, bis Sing seine Methodik im Jahre 2112 veröffentlichte. Die Menschen jener Zeit besaßen jeweils nur Merkmale des einen Geschlechts, die sie nicht ohne größere Schwierigkeiten wieder abändern lassen oder umtauschen konnten. Sie waren zu ihrem Geschlecht gewissermaßen verurteilt.
Hinzu kam der Gen-Faktor. Aufgrund genetischer Festsetzungen, die sich damals nur schwer und unter mancherlei Verlusten umeichen ließen, gebar eine Frau im Durchschnitt mehr Jungen als Mädchen. Diese Differenz gewann erst Anfang des 21. Jahrhunderts, da es in Mitteleuropa erstmals über mehrere Generationen keine bedeutenden Kriege mehr gab, die Männer in überdurchschnittlicher Zahl reduzieren konnten, an Bedeutung. Die Rolle der Brutautomatik war, auf die Gesamtzahl der Geburten bezogen, noch unbedeutend. Auch genoss sie noch wenig gesellschaftliche Anerkennung.
Mit jedem Jahr mehrten sich nun die Männer, die keine Frau fanden, obgleich sie sich um weibliche Partner bemühten. Die Frauen machten sich in dieser Situation rar und wählten sich logischerweise nur Partner, die ihnen zusagten, nicht immer nur männliche, und wenn, dann oft nur auf Zeit. Millionen blieben dabei auf der Strecke. Hässliche, Arme, unglücklich Geschiedene, Arbeitslose, Machos, Männer mit zu breiten Hüften, alle Unangepassten, die nicht gleichzeitig cool waren.
Folge war, dass die Suche und das Werben um Geschlechtspartner einen großen Teil der Zeit der Männer in Anspruch nahm. Es ist offensichtlich, dass viele davon trotz ihrer Anstrengungen ohne Erfolg blieben. Diese Männer suchten nach Ersatzbefriedigung, die sich dann auch schnell einstellte.
Wichtig war für jene Männer vor allem, dass sie miteinander reden konnten, dass sie einem guten Freund ihr Leid klagen konnten. So bildeten sich innerhalb kurzer Zeit Talkshows, Zeitschriften und zahllose Kommunikationskreise. Bald existierten derartige Männertreffs in so großer Zahl, dass manche Frau sie abfällig als Pest, Bierkränzchen oder Treffpunkt für Jammerlappen bezeichnete. Doch der Wille zu trösten, und sich trösten zu lassen, machte auch vor solch leichtfertigen Demütigungen nicht Halt. Die Verlierer trafen sich weiter, und distanzierten sich solcherart auf die ihnen eigene Weise von ihrer Bestimmung.
Eine besondere Erscheinung unter den Männerzeitschriften jener Zeit waren Science-Fiction-Magazine. Hier äußerten sich schriftstellerisch begabte Männer über ihre Probleme, indem sie sich gesellschaftliche Zustände und Erfindungen für die Zukunft ausmalten, die ihre gegenwärtigen Leiden zu lindern vermochten. Diese Zeitschriften hatten großen Einfluss auf Bevölkerung und Wissenschaft ihrer Zeit. Viele Männer lernten durch diese Reflexionen, sich mit ihrem Schicksale abzufinden, Frauen lernten, jenen unbekannten Kontinent, den sensiblen Mann, besser durch sie zu verstehen, die Wissenschaft wurde durch künstlerische Visionen angespornt, dem Mangel durch technische Lösungen Abhilfe zu verschaffen. 
Bedeutende spätere Erfindungen wie der VibraMax-Automat oder die Entdeckung des Zwitter-Gens wurden erstmals in solchen Männer-Science-Fiction-Magazinen konzipiert.
Der hier vorliegende Text 'Wie wir uns kennenlernten' von Josef Schleif schildert eine Gesellschaft, in der Frauen sich ohne tückische Hinterfragungen und Abwägungen sowie Prüfungen der Bankkonten bereiterklärten, Bindungen mit Männern einzugehen. Fraglos gehört diese Geschichte zu den etwas weit hergeholten Utopien jener Zeit, war aber in ihrer Art durchaus nicht ungewöhnlich. Die Stadt Augsburg war damals übrigens tatsächlich etwas wie das deutsche Zentrum für Partnervermittlung, wenn die Realität sich auch geringfügig anders darstellte. Fast nur Männer waren in die Karteien der Computer eingetragen, Frauen hatten es meist nicht nötig, sich für die Partnerwahl an Institute zu wenden, weshalb die Partnervermittlung damals insgesamt kein einträgliches Geschäft darstellte, sieht man von homosexuellen Beziehungen ab.
Der Autor Josef Schleif ist auch aus einem weiteren Grunde interessant. Als Vertreter der föderalen Bewegung innerhalb des geeinten Europas erzielte er im deutschsprachigen Raum große Erfolge. Patriotische und rassisch verquaste Tendenzen schimmern auch in diesem Text durch. Zu Schleifs wichtigsten Werken gehören die Romane 'Sturm über Augsburg', 'Augsburg und München retten die Welt', 'Die preußische Frauenverschwörung' sowie die umstrittene Fernsehdokumentation 'Ludwig lebt!'.