SciFi-Journalistik-Perle, Entstehungszeit um das Jahr 2000 herum.
Die Igelin
Ein jeder weiß, wo die TANKREDISCHEN WASSERFÄLLE liegen. Der Slogan "Canopus - Capella - 14 Sekunden linker Hand - planeteneinwärts zum weißen Tankred-Strand!" gehört zu den Hits im Universum, und der Landstrich östlich der Wasserfälle gehört zu den meistbesuchten im All. Erst kürzlich überstieg die Zahl der Gästebetten am Ostufer der Fälle die Marke von einer Milliarde, und das Gedränge, das sich jährlich zur Hochsaison dort bildet, ist ein Ereignis, das mit Worten zu beschreiben unmöglich ist.
Diese Seite des TANKRED ist hinreichend bekannt. Ich will an dieser Stelle von seiner anderen berichten.
Wendet das Auge des Betrachters sich nämlich einmal hinweg von der belebten Flußregion, von den wie Käfer sich tummelnden Touristik-Booten, -Fässern und -Gleitern entlang der Fälle, weg vom flachgetretenen Ufer der gesuchten und galaxienweit so beliebten Ostseite, hin nach dem wegen der Mücken- und Eidechsenschwärme praktisch unbewohnten Westufer, so erreicht man, nur wenige Kilometer weiter, das einsam sich breitende, noch weitgehend unbekannte Nebendelta des TANKRED-FLUSSES, wo unzählige Bächlein und Rinnsale sich über die SCHIEFE EBENE VON ZETT durch eine niedriges Gestrüpp von GUMBA-PFLANZEN gemächlich in den TANKREDISCHEN OZEAN ergießen. Durchquert man nun noch, mit Hilfe eines Gleiters oder eines SUMPF-BUGGIES, die daran anschließende, sumpfige GRENZLANDZONE, so trifft man nach etwa hundert Kilometern, eben an der Stelle, wo der letzte, bereits halb trockene Rest Sumpf sich zur MINOISCHEN STEPPE hin öffnet, ein kleines Gästehaus, über dessen Eingangstür ein altes Holzschild im Winde baumelt, ein Holzschild, das die Aufschrift trägt "Wirtshaus Zum Sumpf".
Das gepflegte, einfache Holzhaus gilt als eines der östlichen Tore zur Steppe. Eine der alten Nesselstraßen, die die Ödnis schon seit Urzeiten durchqueren, endet hier, früher führte ein Trampelpfad, der heute schon lang überwuchert und von den GUMBA verschlungen ist, von hier aus durch die Sümpfe weiter hin zu den Fällen und schließlich zur am Ostufer des TANKRED liegenden, allberühmten Hauptstadt TANKRERA-RORA-BELLE.
Der Steppenhandel ist heute nicht mehr bedeutend. Naturprodukte lassen sich anderswo der Norm entsprechend und billiger herstellen, so daß es kaum lohnt, den langen Weg in die Ödnis auf sich zu nehmen. Allein die Blüten der STEPPEN-NESSEL finden noch Absatz, werden als kostspielige Accessoires und Spielereien an die teureren Haushalte und Hotels am Ostufer des TANKRED verkauft.
Es ist still in der Gaststätte, als ich sie betrete, fast leer. An einem der groben Holztische in der Stube sitzt links von mir in der Ecke ein alter, zweibeiniger MINOS-NOMADE vor einem Krug STEPPEN-GERSTEN-BIER. Er blickt auf, ich hebe das rechte Knie zum traditionellen Gruß der Nomaden. Der Mann grüßt respektvoll zurück, trinkt einen Schluck, beschäftigt sich wieder mit sich selbst. Hinter der langen Bar, der Eingangstür gegenüber, steht Bomber, Ninoas Faktotum, und wartet, die Decke anblickend, auf Arbeit.
Auch Bomber ist MINOS-NOMADE, eine Voll-Waise, die von Ninoa erzogen wurde. Bomber spricht nicht, er gilt nicht gerade für klug. Seine Aufgaben in Wirtschaft und Haushalt erledigt er dennoch verläßlich. Seit dem Tod ihres Mannes ist Bomber für Ninoa unverzichtbar.
Ich lernte Ninoa vor vielen Jahren kennen, als ich an meiner ersten Reportage über die Minos-Nomaden arbeitete. Drei von vier Karawanen, denen ich mich damals im Zufallsverfahren anschloss, zogen nach Osten und landeten schließlich hier, ihre gesammelten Blüten zu veräußern, und Güter, die sie benötigten, bei fliegenden Händlern einzukaufen.
Ich setze mich an die Bar und sehe erst jetzt, dass auch Ninoa hier ist. Sie wischt die Gläserspüle aus. Als sie sich einen Moment später zu mir umwendet, frage ich:
"Wie geht's dir, Ninoa?"
Ninoa wackelt antwortend mit ihrem Kopf auf eine Weise, die alles bedeuten könnte, und meint, es gehe ihr eben so.
Ich hake nach. "Und die Geschäfte?"
Ninoa wendet sich ab und scharrt mit ihrer linken Pfote. Ich kenne das Zeichen von meinen früheren Besuchen. Es bedeutet, Ninoa hat wieder Ärger mit den Trike-Fahrern. Dies erklärt auch ihr nüchternes Auftreten. Ninoa gilt allgemein für eine sehr herzliche Wirtin.
Ich bestelle mir eine Limonade, die Bomber mir einschenkt, und harre schweigend der Gäste, die kommen. Der Alte am Tisch bestellt einen Schnaps. Branntwein aus dieser Ecke des Planeten ist mit seinem GUMBA-AROM für Wesen, die Geschmacksnerven besitzen, völlig ungenießbar. Eine Tatsache, über die ich Ninoa schon oft schmunzeln sah. Sie selber nippt bei Gelegenheit gern an einem Gläslein GUMBA-SCHNAPS.
Ich nehme einen Schluck Limonade und sehe Ninoa bei der Wischerei zu. Ninoa ist klein. Geradezu unheimlich klein. Laut Meinung der Wissenschaft ist sie das kleinste bekannte, regulär reflexions- und artikulationsfähige Wesen im Universum.
Als die Forscher sie damals mit ihren LINEALEN und LASER-SCHUBLEHREN abmaßen, stellten sie eine Körperlänge von 25 Zentimetern fest. Die Konfrontation mit ihrer aufs Genaueste ermittelten Körpergröße stürzte Ninoa, eine bis dahin stets fröhliche junge Frau, in ein tiefes seelisches Loch. Sie hatte sich nie Gedanken über ihre äußeren Maße gemacht. Der plötzliche Schock war zu groß für sie.
Jahre vergingen, in denen Ninoa sich zurückzog, verstummte, sich nur noch über die traditionelle TANKRED-ZEICHENSPRACHE mit ihren besten Freunden verständigte, in denen sie oft wochenlang ziellos und einer Schlafwandlerin gleich durch die MINOISCHE STEPPE irrte. Doch sie rekonvaleszierte.
Später widerrief sie jeden weiteren Kontakt mit der Wissenschaft für alle Zeiten im Voraus. Sie lehnt es ab, zu ihrem eigenen Wohl, wie sie sagt, und um ihr Leben und ihre Lebensweise zu schützen, noch einmal mit der forschenden Zunft zu kommunizieren. In aller Regel wird ihre Haltung vor der Wissenschaft respektiert. Nur selten und vereinzelt trifft man heute noch als Nomaden verkleidete junge Forscher in der Gaststube an.
Damals, zur Zeit ihres Bekanntwerdens war Ninoa zwanzig Jahre alt, eine plötzliche Pressesensation, um die es bald wieder still wurde, weil sie das Spiel der Medien und der Prominenten nicht mitspielte. Niemand weiß, wie alt sie, als singuläres Wesen ohne spezifische Rassen- oder Gattungszugehörigkeit, werden wird. Heute zählt sie bereits 316 Jahre, womit ihr Alter, die Lebenserwartung von Tieren ihrer Größe auf menschliche Dimensionen hochgerechnet, bereits dasjenige alt-biblischer Größen übertrifft.
Ob der Bericht über ihre Geburt, den Ninoa der intergalaktischen Untersuchungskommission in jenen Tagen vorgelegt hatte, der Wahrheit entspricht, ist bis heute nicht geklärt. Vieles darin klingt nach Legende, und die Forschung hat Ninoas Angaben nie für vollständig gehalten. Irgendetwas Besonderes habe Ninoa damals verschwiegen, so sagen viele bis heute, irgendetwas besonders Wichtiges, möglicherweise von Bedeutung für das Verständnis des Universums an sich.
Immerhin, es ist schwer zu kontrollieren. Alle verlässlich intelligenten Wesen, die zur Zeit ihrer Geburt lebten, sind tot, und zu Lebzeiten wussten sie nichts anderes über das Thema als Ninoa selbst zu sagen.
Ich frage Ninoa höflich, ob ihre Story denn wirklich wahr sei. Sie schüttelt ihren Igelpelz und tappt rhythmisch mit ihrer rechten Hinterpfote auf die Spüle. Das Zeichen ist komplex und bedeutet etwa: "Sie ist wahr, und ich erzähl sie dir kein zehntes Mal, du Blödhammel!"
Dies gesagt, wendet sich Ninoa dem Wischen der Flaschenablage zu, die Bomber eben abgeräumt hat.
"Damit hab ich kein Problem, Ninoa." sage ich beschwichtigend. Derartige Repliken weisen auf einen neuen Wesenszug dieser sonst so zierlichen wie sympathischen Person hin. Ich ziehe es vor, für eine Weile den Mund zu halten und denke nach.
Ninoas Geschichte
An einem frühen Morgen vor etwa einundzwanzig (heute also 316, Anm. d. Verf.) Jahren, so gab Ninoa damals vor der versammelten intergalaktischen Untersuchungskommission zu Protokoll, fand der alte Sumpfwirt, nachdem er die Gaststube gerade abgeschlossen hatte, auf einer der Sitzbänke einen beschädigten PVC-Beutel.
Er öffnete den Beutel und holte nach und nach den folgenden Inhalt heraus: Ein zwei Monate altes Flugticket von Nightingale I nach TANKRED, ein paar vertrocknete NESSEL-BLÜTEN, schmutzige, verkrüppelte GUMBA-WURZELN, einige schöne Kiesel, mehrere Dreckbrocken, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den Wurzeln stammten, eine kaputte Eierschale und Ninoa, so groß wie ein kleiner Finger, leise piepsend und muckend, mit noch verschlossenen Augen.
Der Wirt und seine Frau hielten Ninoa für irgendein kleines Säugetier, einen Igel vielleicht, und beschlossen, das winzige Ding großzuziehen. Schnell lernte Ninoa sprechen. Bald wurde ihre überdurchschnittliche Intelligenz offenbar, und nur wenige Jahre vergingen, da erledigte sie schon Verwaltungs- und Rechenaufgaben im Haus und ging, soweit ihre nach wie vor winzige Körpergröße es erlaubte, ihren Zieheltern in Haushalt und Wirtschaft zur Hand.
Was Ninoas Herkunft betrifft, so hat man auf diese Frage nie befriedigende Antwort gefunden. Weder der Wirt noch seine Frau konnten sich erinnern, ob in besagter Nacht jemand, und wenn ja, wer auf dieser Bank gesessen hatte.
Natürlich ist Ninoa kein richtiger Igel. Ihr Stoffwechsel entspricht eher dem reptilienartiger Lebensformen. Andererseits ist auch kein Reptil bekannt, das mit ihr verwandt sein könnte.
Nightingale I kann ihr Ursprung nur schwerlich sein. Der Planet ist kalt, besitzt seit Milliarden Jahren keine Atmosphäre, hatte vielleicht niemals eine. Auch das Flugticket gibt Rätsel auf. Es gab niemals Linienflüge auf Nightingale I. Nicht vor dreihundert, und nicht vor drei Milliarden Jahren. Ist das Ticket also eine Fälschung? Diese Fragen sind bis heute unbeantwortet.
Es wird Abend im GUMBA-LAND. Die Sonne liegt knapp über dem Horizont und taucht die Steppe in düsteres Rotlicht. Ich nehme meine Limonade und setze mich zu dem alten Nomaden an den Tisch.
"Wo hast du dein drittes Bein verloren?" frage ich ihn in seiner NOMADEN-SPRACHE.
"Ein TRIKE-FAHRER ist drübergebrettert!" antwortet der Alte wütend und knallt seine Faust auf den Tisch. Ich verstehe seine Wut. Die STEPPEN-TRIKES haben sich zu einem echten Problem für die Nomaden entwickelt. Man findet sie hier seit ungefähr fünfzig Jahren. Hochzivilisierte Stadtbewohner, viele von der Ostküste des Tankred, andere auch von fremden, unbekannten Planeten und Galaxien, strömen in die Wildnis heraus, um mit riesigen, mit Profilreifen bestückten PS-MASCHINEN ihre Aggressionen bei hoher Geschwindigkeit in den Boden der Minos-Steppe zu rammen. Dass wandernde Nomaden dabei leicht übersehen werden, wird, wenn man das Tempo dieser Maschinen von teilweise bis zu zweihundertachtzig Stundenkilometern bedenkt, verständlich.
Proteste von Vertretern der Nomaden in den ortsansässigen Parlamenten zeigten bisher keinerlei Wirkung. Nomaden haben keine Lobby in dieser von Städtern dominierten Welt.
Draußen wird plötzlich ein Knattern laut. Der alte Nomade zuckt zusammen. In den Fenstern zur Steppe hin tauchen im Abendrot drei riesige Silhouetten auf, die Silhouetten dreier zehn Meter hoher MINOS-RIESEN-TRIKES.
Momente später kommen die Ungetüme quietschend und schmatzend im Schlamm vor dem Wirtshaus zum Stehen. Laute Stimmen sind zu hören, schmutziges Lachen, jemand rutscht aus und landet grölend im Schlamm, noch lauteres Lachen, dann wieder Schritte, die näher kommen.
Die Tür fliegt auf, drei Triker stiefeln herein.
"He, Kumpels!" schreit einer, während die drei sich geräuschvoll an einen der Tische setzen.
Triker gehören der Kategorie Leute an, die ausschließlich Spaß haben will, es sind FUN-PEOPLE, Leute, die oft nicht einmal, selbst wenn sie von ihren Trikes herab etwas erkennen könnten, ein NESSEL-BLÜTE von einem NOMADEN-BEIN unterscheiden können.
Alle Drei tragen sie die Triker-Kluft, die in dieser Galaxie überall gleich ist. Krokomäntel, Sonnenbrillen, Bruce-Willis-Schweißhemden, Lederhosen, Cowboystiefel.
"He, Ninoa!" schreit der eine wieder. "Fünf Runden BIER für uns DREI. Aber dalli!"
Der Schreier ist offensichtlich der Kopf der Bande. Er trägt eine alte Lufthansa-Piloten-Schirmmütze, während die anderen sich mit den runden Stewardessen-Käppchen begnügen.
Ninoa verzichtet auf den persönlichen Service und schickt Bomber mit dem Tablett. Zu leicht werden Triker übergriffig und aggressiv, wenn sie Bier trinken. Als erfahrene Barfrau unterlässt Ninoa hier unnötige Provokationen.
Niemand beobachtet die Triker, während sie mit verzerrten Gesichtern das herbe Bier der STEPPEN-GERSTE hinunterkippen und auf übertriebene Art immer lauter und lustiger werden.
Nach einigen Minuten steht der Schmutzigste von ihnen, offenbar jener, der vor der Tür ausgerutscht war, auf und wankt besoffen zur Bar, wo er eine anzügliche Bemerkung in Richtung Ninoa losläßt.
Bomber reagiert blitzschnell. Er zieht ein Klapp-Buschmesser aus seiner riesigen Gürtelschlaufe, die anderen Triker springen hoch und ziehen LASER-MASCHINENPISTOLEN aus ihren Holstern. Die Situation droht in der nächsten Sekunde zu eskalieren, als plötzlich ein sehr durchtrainiert wirkendes, schnaubendes Stierwesen krachend durch ein Fenster hereinstürzt.
"Ich bin der Stier von Minos!" brüllt es und stürmt auf den Schmutzverkrusteten zu. Der Triker geht wankend in Karatestellung, das Stierwesen stolpert und trifft seinen Gegner ungeschickt mit dem linken Horn im Gesicht.
"Autsch! Der Affenarsch hat mich verletzt!" schreit der Schmutzige und hält sich das rechte Auge. Er geht zu Boden. Scheinwerfer springen an, die bisher ziemlich schummerige Szenerie erhellt sich. Jemand schreit nach einem Sanitäter, und von einer Seitentür laufen zwei Sanis herein, die den jammervoll Stöhnenden versorgen. Das Stierwesen greift sich an den Hals und nimmt seinen Kopf ab. Darunter erscheint das Haupt eines gutaussehenden, aber nicht sehr talentiert wirkenden Blondins.
"Verdammt, diesmal war ich echt gut!" schreit er.
Ein Regisseur kommt mit einer Handvoll Assistenten durch eine andere Seitentür herein und hebt beschwichtigend die Arme: "Klar, Ringo. Du warst super!"
"Echt." bestätigt einer der Assistenten.
"Das war oskarreif, Mann." meint ein zweiter.
Der Blonde ist beruhigt und setzt sich erschöpft zu den beiden wieder sitzenden Trikern, die ihm anerkennend auf die Schultern klopfen. Der Regisseur lobt Ninoa und Bomber für ihre guten Performances und wendet sich nun an mich:
"Herr von Kapwendel - Feinripp, ich muss mich entschuldigen! Sie haben sich in dieser für Sie unvorhersehbaren Situation absolut großartig verhalten. Ich fühle mich geehrt, einen so prominenten intergalaktischen Journalisten durch Zufall auf meinem Set begrüßen zu dürfen."
Wir tauschen einige Floskeln, dann dreht er sich wieder seiner Crew zu und erklärt den Drehtag für beendet. Ein TRANSPORT-GLEITER schwebt vor der Tür zu Boden, Regisseur, Crew und Darsteller strömen hinaus, der Gleiter entfernt sich in Richtung Tankred-Fluss.
Wir sind wieder allein. Ninoa, Bomber, der Alte und ich. Ninoa erklärt, warum sie dieses Filmprojekt duldet, warum sie, die die Öffentlichkeit ihr Leben lang scheute, sich heute selbst vor laufenden Kameras produziert:
Die Zeiten seien schwer, sagt sie. Die Minos-Nomaden würden eher weniger als mehr, und seit ihr Mann tot sei, und nur wenige Jahre später das Mc Donald's Restaurant ganz in der Nähe eröffnet habe…
Ninoa hält sich die Pfoten vors Gesicht und springt auf ihren Hinterbeinen hin und her. Das Zeichen ist mir völlig unbekannt. Ich kann es nur als Ausdruck der tiefsten Verzweiflung deuten.
Ninoas Eltern, die alten Wirtsleute, hatten zur Zeit von Ninoas erstem Auftauchen bereits ein Kind, einen Sohn namens Paul. Sie machten keinen Unterschied. Sie zogen Ninoa vorurteilslos und mit großer Hingabe heran, gerade so, als wäre sie Pauls leibliche Schwester. Die beiden Kinder verstanden sich gut, sie mochten sich, und aus geschwisterlichen Neckereien wurde eines Tags Liebe. Sie heirateten.
Paul war ein Koloss von einem Nomaden, den ich selbst noch erlebt habe, ein derber und wüster Kerl, dessen Herz aber das eines Singvogels war. Er war es, der nach dem Tod seiner Eltern das Wirtshaus zum Sumpf weiterführte. Mit harter Hand und viel Gefühl gelang es ihm, dabei so manches Plus in die Bilanzen der Gaststätte zu arbeiten. Er waren glückliche Zeiten für Ninoa.
Die Verhältnisse änderten sich schlagartig, als Paul verschwand. Es passierte an einem betriebsamen Nachmittag. Paul war nur mal kurz in die Steppe, frische Luft und ein paar MINOS-GRASHÜPFER schnappen gegangen, und kehrte nicht wieder.
Ninoa hatte immer einige trinkende Triker in Verdacht, die sich zu jener Zeit in der Steppe herumtrieben. Man konnte ihnen nie etwas nachweisen. Paul bleibt verschollen bis zum heutigen Tag.
Wer geglaubt hatte, ohne Paul würde das Wirtshaus nun seinem baldigen Ende zusteuern, der sah sich getäuscht. Ninoa arbeitete hart, leistete für ihre Körpergröße beinahe Unglaubliches, und hielt so das Wirtshaus zum Sumpf am Leben, stetig unterstützt von ihrem braven Bomber.
Das Geschäft sei immerhin leidlich gelaufen damals, sagt Ninoa heute. Ein weiterer Rückschlag sei die Eröffnung jenes Imbißstandes nicht weit entfernt gewesen. Es sei kein großer Laden, Personal würde hier draußen nicht lohnen, eine vollautomatische Produktionseinheit genüge vollkommen. Sie produziere billig und immergleich, vornehmlich Zeug aus schnell aufspaltbaren Kohlehydraten, das zu Darmkrebs und Übergewicht führte. Das sei genug für die Triker, auch für immer mehr Nomaden. So ist Ninoas Umsatz seit Jahren rückläufig. Trotzdem soll das Wirtshaus zum Sumpf nicht auch zum Schnellimbiss degenerieren, sagt Ninoa. Persönlicher Service und gute Küche seien immer das gewesen, was das Wirtshaus zum Sumpf ausgezeichnet habe. Später erklärt sie mir, sie lebe seit Jahren nur noch von den Reserven.
Ich sehe zum Fenster hinaus. Es ist Nacht geworden. Die Nacht der Steppe. Am klaren Himmel funkelt ein Sternenmeer. In der Ferne blinkt die Reklame des Schnellrestaurants. Einige Trikes parken davor, daneben steht angebunden eine Herde Kamele. Ninoa raucht eine ihrer winzigen selbstgedrehten Cigaretten. Sie raucht zwei Cigaretten täglich, keine mehr, seit ihrem fünften Lebensjahr.
Es wird spät. Der alte Nomade geht zu Bett. Er ist der einzige Logis-Gast seit einer Woche. "Gute Nacht, Pablo." piepst Ninoa müde. Sie schickt auch Bomber zu Bett. Bald wird sie schließen.
Wir setzen uns auf die Veranda an der Hinterseite des Hauses.
Die Trikes vor dem Imbiss werden von einem Gleiter Richtung TANKRED-FLUSS abgeholt. Der Gleiter verschwindet, dann herrscht Totenstille, gelegentlich unterbrochen vom fernen Schnauben eines Kamels.
Unter dem Himmel breitet die Steppe sich bis zum Horizont. Man spürt die Weite dieses Landstrichs.
"Warst du schon mal auf Urlaub?" frage ich Ninoa, die entspannt mit allen Vieren auf einer auf dem Tisch liegenden Serviette sitzt.
"Einmal, Hans-Jürgen." antwortet sie. "Auf Omega-Angström 8. Verwandte von Paul lebten dort. Es gefiel uns nicht besonders. Die vielen Leute machten Paul beinah paranoid. Mich übrigens auch. Der Planet ist völlig überbesiedelt. Was dazu kam, war, daß wir ständig über unser Wirtshaus nachdachten. Wir hatten einfach Angst darum. Am Rand der Steppe weißt du nie, was passiert. Nach zwei Tagen flogen wir wieder zurück."
Mir wird bewusst, wie sehr Ninoa im freien Lande, der Steppe und der Natur wurzelt. Im Vergleich zu anderen bewohnbaren Planeten muss OA 8 ja als geradezu "dünn" besiedelt gelten. Seine Bevölkerungsdichte entspricht im Höchsten derjenigen der unendlichen Luxus-Zwei-Familien-Planetoiden im Sternbild Jarmila Klaasen. Einem Landei ist selbst das schon zu viel.
Mir gehen die Fragen aus. Ninoa scheint entsetzlich traurig zu sein. Über die guten alten Zeiten wage ich nicht zu sprechen. So schweigen wir für einige Zeit.
Während wir sitzen, rast plötzlich ein Lichtschweif über den Horizont. Er nähert sich dem Gasthaus. Es ist ein Gleiter, so schnell wie der Blitz. Augenblicke später landet er bereits vor dem Haus. Wieder knallen Türen. Leute, Dinge springen in den Matsch. Ninoa eilt ins Haus zurück zur bereits verschlossenen Tür. Jemand trommelt dagegen.
"He, ist da wer!" schreit eine männliche Stimme.
Mit einem gehakten Stock entriegelt und öffnet Ninoa die Tür.
Ein dicker Humanoid tritt herein. Ninoa schaltet das Licht an. Der Typ ist wirklich auffällig beleibt. Er trägt einen teuren Freizeitanzug, Turnschuhe, einen Tirolerhut. Er glotzt Ninoa wie von Sinnen an. Eine fantastisch aussehende, perfekt gestylte Brünette folgt ihm hinterdrein. Sie sitzt auf einem spinnenartigen Gestell, auf dem sich zwei Kameras mit verschiedenen Objektiven auf Gelenk-Schwenkarmen suchend bewegen. Die Brünette bedient einige Hebel auf ihren Sitzlehnen, sie trägt ein Head-Set mit einem Mikrofon, in das sie spricht, außerdem eine Art Sonnenbrille, in der zwei Flüssigkristall-Bildschirme flimmern.
"Schau mal, das ist sie." sagt der Dicke zu dem Spinnengestell und deutet auf Ninoa.
"Okay!" sagt die Brünette. "Kamera 1, Zoom auf die Kleine. Nimm mehr Film. Ich will eine Super-Zeitlupe von der Sequenz. Kamera 2, nimm dir die Umgebung vor, die komischen Tierköpfe an den Wänden, das Mobiliar, die Spirituosen, und den Typen, der neben der Kleinen steht. Ich will Einzelaufnahmen von seinen schönen Augen, seinem dichten Haar, seinen tollen Muskeln, seinen Bartstoppeln."
Die Kameras beginnen schwenkend und zoomend mit ihrer Arbeit.
"Meine Herrschaften." sagt Ninoa seelenruhig. "Ich weise sie darauf hin, dass dieses Gasthaus bereits geschlossen hat. Wenn sie also keinen anderen Wunsch haben als ein paar Fotos zu schießen, dann muss ich sie bitten, meine Gaststube zu verlassen."
Der Dicke blickt zu seiner Freundin, die ihm in einer Art zunickt, die bedeuten mag: "Keine Angst" und "Alles unter Kontrolle."
"Hast du Gumba-Schnaps?" fragt der Typ und zückt ein Bündel Hundert- Dollar-Scheine.
"Haust du dann ab?" fragt Ninoa.
"Klaro." sagt der Typ.
Ninoa geht zur Bar, steigt die Leiter zur Theke hinauf, gefolgt von den Kameras und dem Spinnengestell. Die Brünette kommentiert das Geschehen in ihr Head-Set-Mikrophon hinein:
"Das Igelwesen bewegt sich jetzt mit seinen kleinen Schritten auf eine Art Hühnerleiter zu. Kommt sie da überhaupt hinauf, sind die Sprossen für diesen Winzling nicht zu hoch? Nein sie schafft es. Schritt für Schritt, mit sicheren Bewegungen, stemmt das Igelwesen sich Sprosse für Sprosse die Leiter hinauf. He, Kleine, wie oft machst du das so am Tag?"
Ninoa ignoriert die Frau, steigt auf die Anrichte, hebt eine Flasche KESENHEIMER-GUMBA-BRAND aus dem Regal und schenkt dem Dicken ein Schnapsglas bis zum Rande voll. Der Dicke sitzt bereits auf einem der Barhocker und blickt nervös in Richtung der Brünetten, die ganz offensichtlich seine Geliebte ist. Das Gestell krakelt wieder um die Theke herum und nimmt nun den Mann in die Visiere. Die Brünette sagt nichts mehr, gibt keine Kamerabefehle. Ninoa reicht dem Dicken das Glas. Eine Kamera liegt im Zoom auf seinem Gesicht, die andere filmt ihn in der Totalen. Er schwitzt, seine Augen zittern nervös hin und her. Er hebt das Glas hoch, öffnet seinen Mund und schüttet den Inhalt in einem Schluck hinunter. Es versucht zu lächeln, reißt triumphierend einem Arm mit der geballten Faust in die Höhe, seine Gesichtszüge spiegeln unerträgliches Grauen wider.
Nach einigen Sekunden schnappt er die Geldscheine, wirft sie Ninoa hin und verabschiedet sich mit irgendeinem unverständlichen Gruß. Er läuft wie der Blitz hinaus. Das Gestell mit der Brünetten folgt ihm, während eine Kamera noch schnell einige Meter von Ninoa und mir auf Celluloid bannt. Sie sind draußen. Ninoa geht zur Tür zurück und schließt sie mit ihrem Hakenstock ab.
"Er wird sich die Seele aus dem Leib kotzen." sagt sie lakonisch. "Vielleicht auch mehr."
Ninoa löscht das Licht. Das Geld wird sie zusammen mit der Filmgage für ein halbes Jahr über Wasser halten. Draußen hört man den Typen in den Sumpf reiern und seine Freundin Kommandos geben. Wir kümmern uns nicht darum. Ninoa sagt, sie sei müde, sie müsse jetzt wirklich ins Bett. Ich ziehe mein vollautomatisches Super-Recherche-WAP-Funk-ISDN-Funktions-3D-5D-Mobiltelephon heraus und bestelle einen Taxigleiter. Wir verabschieden uns. Ich gehe hinaus. Ninoa schließt die Tür ab. Das Licht in ihrer Schlafkammer geht an.
Das Licht in ihrer Schlafkammer geht wieder aus. Der Gleiter mit den beiden Touristen erhebt sich taumelnd in die Luft, mein Taxi-Gleiter schießt über den Sumpf heran und landet mit leisem Zischen. Ich steige die Holztreppe hinab und wandle gedankenversunken dem Taxi entgegen.