In Amerika
Ein junger deutscher Journalist, vielleicht auch Schriftsteller, genau weiß er das selbst noch nicht, reist auf eigene Faust durch Amerika.
Er mag die Amis nicht wirklich, hat sie eigentlich immer schon für dumm, banal und oberflächlich gehalten, als Anschauungsobjekte aber faszinieren sie ihn immer mehr.
Da ist zum einen ihre für seine Maßstäbe offenbare Ungebildetheit und grenzenlose Naivität. Dann ihre, wie er meint, untrennbar mit ihrer Nationalherrlichkeit vermengte Selbstzufriedenheit, ein Umstand, der ihn unglaublich aggressiv werden läßt, die ihn manchmal, wie er sich eingesteht, sogar zum Mörder machen könnte.
Faszinierend empfindet er auch die Einfachheit der Amis in ihren Beziehungen. Klar, denkt er sich, dass solche Beziehungen immer nur seicht und oberflächlich sein können, aber sie schließen oft auch eine Herzlichkeit mit ein, die er unter seinesgleichen kaum kennt. Was den Sex betrifft, so genügen hier, wenn es gut läuft, schon mal wenige Worte. "Yeah, I'm writing poetry.", "Yeah, from Europe.", "Yes, I'm a poet. You know Rilke? Sonnetts to Orphe-us?".
Der junge Mann findet viel Aufschlussreiches und Kurioses unter den Amis, hat eigentlich immer mehr Spaß als schnell aufgenommener und doch den heimlich verachtenden Blick bewahrender Beobachter.
"Wenn ihr nicht wärt, ich könnte euch nicht verachten." schreibt er sich für den Protagonisten seines hoffentlich irgendwann einmal geschriebenen großen Romans in sein Bruce Chatwin-Notizbuch.
Vor drei Monaten war er an der Ost-Küste eingetroffen. Boston, New York, er liebte das Europäische dieser Städte, das kulturell Vielgestaltige dort, die Intelligenz, die von den bekannten Universitäten, der Tradition, der dichten Besiedlung, dem regen öffentlichen Leben und dem vielfach sichtbaren, grandiosen Reichtum auszustrahlen schien.
Fast schweren Herzens ließ er den Osten hinter sich und begab sich in die Provinz. Rasch durchquerte er den Mittleren Osten, verlangsamte sein Tempo dann im Mittleren Westen, und hielt sich für eine Weile in Lincoln, dann in Topeka auf, den beiden schlafmützigsten Großstädten, die er in seinem Leben gesehen hatte.
An dem Abend, als es anfing, machte er gerade in Seymour, einem Kaff am Brazos River Halt. Es war schon dunkel. Er saß in einem Wendy's-Imbiß beim Abendessen. An den anderen Tischen saßen Trucker, Familien und einige durchreisende Geschäftsleute oder Handelsvertreter. Auf dem großen, das ganze Restaurant dominierenden Fernseher lief gerade die neue Hitserie über einen humanoiden Außerirdischen namens X-25, der sich Robert nannte, und der in Maggie verknallt war.
Plötzlich schaltete sich die Nachrichtenabteilung mitten in die beste Szene seit Wochen hinein. Maggie hatte Robert nämlich zum ersten Mal nicht ausgelacht, nachdem er ihr zum tausendsten Mal einen Heiratsantrag gemacht hatte. Grübelnd hatte sie nun stattdessen am Fenster gestanden und zwei Nachbarsjungen dabei zugesehen, wie sie zum x-ten Mal ihren Gartenzaun demolierten.
Im Nachrichtenstudio herrschte hektische Bewegung hinter der prominenten dunkelhäutigen Sprecherin, die so überwältigend gut aussah, dass sie wohl, wie der junge Mann bereits vor einigen Tagen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, mit cooler Begeisterung und sachlich-überzeugtem Journalistenton notiert hatte, nicht mehr lang bei den Nachrichten bleiben würde. Männer und Frauen in weißen Hemden saßen an Telefonen, tippten auf Tastaturen, überprüften Akten und Ausdrucke und besprachen sich untereinander im Flüsterton. Die Sprecherin entschuldigte sich mit ernstem Gesichtsausdruck für die Unterbrechung und verkündete dann, daß vor einigen Stunden an der Ostküste, in Neu-England, eine Krankheit aufgetreten sei, die für Menschen mit anfälliger Disposition tödlich enden könne, die möglicherweise auch übertragbar sei. Man sei sich darin noch nicht gewiß, erste Opfer habe es bereits gegeben, und man solle den Fernseher bitte eingeschaltet lassen, um weiter informiert bleiben zu können.
Von da an war im Fernsehen außer Live-Moderationen und sporadischen Werbepausen kaum noch etwas zu sehen. Die Serie wurde noch schnell zu Ende geführt, aber für dieses Mal war sie ohnehin so gut wie beendet. Maggie hatte es sich noch einmal anders überlegt, den Buben einen Stephen King-Roman hinterhergeworfen, Robert seine obligatorische Abfuhr gegeben, dann war der Abspann schon eingelaufen.
Die Ausstrahlung dieser ersten Nachrichtensendung über die Krankheit hatte dem jungen Mann schlagartig alle Freude an seiner Reise genommen. Plötzlich war es nicht mehr das Amerika, das er haben wollte. Immer verfolgte ihn von nun an eine Furcht, dieser Krankheit nicht mehr entkommen zu können. In seinem kahlen Hotelzimmer sah er in dieser Nacht noch lange fern.
Am nächsten Morgen stand fest, dass die Krankheit sich ausbreiten würde. Quarantänemaßnahmen wurden beschlossen, Kontrollen im gesamten Osten eingesetzt. Er hatte seinen Reiseplan umgeworfen. Er gab sein Auto am nächsten Flughafen ab und flog nach Albuquerque. Viele Flüge waren ausgefallen, die meisten anderen ausgebucht. Dies war der Flug, der ihn im Moment noch am weitesten nach Westen voranbrachte.
Er buchte sich in einem Hotel am Flughafen ein. Fast den ganzen Tag blieb er vor dem Fernseher und versuchte sich Notizen zu machen. Es kam nichts zustande. Er spürte, dass seine innere Ruhe dahin war. Die Krankheit schien nach Westen voran zu kommen. Es hatten sich neue Nester in Nebraska und Indiana gebildet. An der Ostküste waren die Opferzahlen verheerend. Neue Schutzmaßnahmen wurden ergriffen, sämtliche Inlandsflüge gesperrt.
Am späten Nachmittag machte er sich wieder auf den Weg. Er hatte mit deutschen Freunden telefoniert. Den Freunden war nichts anderes eingefallen, als ihm die Adresse des nächsten deutschen Konsulats, das in Los Angeles lag, zu geben. Im Konsulat war man schon mit der Abreise beschäftigt. Telefonisch konnte man ihm nur empfehlen, möglichst schnell nach Los Angeles oder aus dem Land heraus zu kommen.
Die Straßen nach Westen waren verstopft. Es gingen Gerüchte, dass die Krankheit auch hier in Albuquerque und bereits in Las Vegas war. Er erkundigte sich nach Privatflughäfen, doch alle Flughäfen wurden jetzt durch Polizei und Nationalgarde bewacht. Er irrte durch die Stadt. Es wurde schon Nacht. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte, fand weder Busse noch Taxis. Öffentliche Verkehrsmittel schienen überhaupt nicht mehr zu verkehren. Irgendwo ließ er seinen Koffer liegen, er konnte ihn nicht mehr tragen. Am Rande der Stadt traf er auf eine Gruppe Lateinamerikaner, Mexikaner, wie er vermutete, die mit einem Kombiwagen nach Südwesten aufbrachen.
Die Mexikaner schienen ihn auszulachen. Dennoch nahmen sie ihn ohne zu zögern mit. Der Kofferraum des Autos war bis zur Decke beladen mit Lebensmitteln, Kleidung und Haushaltswaren. Die Männer schliefen oder lachten und unterhielten sich. Ihn ließen sie in Ruhe.
Stundenlang fuhren sie über Feldpisten, Staub drang durch die Fenster, der Mond schien auf sie herab. Irgendwann wurde der Wagen langsamer, und sie rollten in eine Siedlung ein, die aus Wellblechhütten und Holzbaracken bestand. Es schien ihm der trostloseste Platz, den er je gesehen hatte. Er fragte sich, wovon die Bewohner hier lebten. Vielleicht waren es Illegale. Was aber machten sie dann hier in der Halbwüste? "Los Angeles!" "Important!" rief er immer wieder. Doch er wurde nur ausgelacht. Man gab ihm eine Decke und deutete ihm an, dass er die restliche Nacht im Wagen verbringen könne.
Als er erwachte, war es schon heller Morgen. Ein älterer Mann ohne Zähne stieg gerade ins Auto. Der Alte drehte sich grinsend zu ihm nach der Rückbank um.
"Los Angeles?" fragte er in einem kaum verständlichen Akzent.
Er nickte. Der Mann startete den Wagen und fuhr los.
Sie passierten einige Felder auf denen Mais, Salat und andere Feldfrüchte wuchsen. Dahinter wurde das Land kahler, beinahe wüstengleich. Das einzige Grün bildeten vereinzelte Kakteenfelder. Der Alte sprach kein Englisch, aber sie fuhren nach Westen, soviel konnte der junge Mann immerhin feststellen. Das Auto hatte kein Radio, sein Handy hatte er irgendwo in Albuquerque verloren. Ob es überhaupt noch Sinn machte, nach Los Angeles zu fahren, wußte er nicht.
Der Alte hatte einige Wasserflaschen zu trinken mitgenommen und bot ihm gelegentlich davon an. Gegen Nachmittag sahen sie die ersten Menschen seit ihrer Abfahrt. Ansiedlungen tauchten auf. Sie waren verlassen, wirkten wie Geisterstädte. Alles strömte nach Westen. An einer aufgegebenen Tankstelle tankten sie ihr Auto voll. Schließlich erreichten sie eine schmale, aufgebrochene Teerstraße. Hier war der Verkehr schon so stark, dass er sich beinah staute. Einige Kilometer weiter standen die Autos dann endgültig. Von einem benachbarten Autofahrer erfuhr er, dass die Krankheit inzwischen weite Teile Amerikas erfaßt hatte. Die Zahl der Toten musste in den Millionen liegen. Los Angeles, so hieß es, war der letzte zugelassene Hafen, über den man Amerika noch verlassen konnte.
Sie waren noch nicht lange gestanden, da drückte der Alte wieder aufs Gas und lenkte den Kombi auf das Ödland seitlich des Straßengrabens hinab. Andere Autos hatten dies vorher schon versucht, viele davon waren auf dem unebenen Untergrund stecken geblieben. Dazwischen staute sich der Verkehr ebenso dicht wie auf der Straße, aber irgendwie fand der alte Mexikaner immer wieder einen Weg zwischen den Fahrzeugen hindurch. So näherten sie sich langsam und stetig der Stadt. Mehr und mehr Menschen drängten sich zwischen den Autos. Armeehubschrauber schwebten über dem Ganzen und verkündeten, man solle Ruhe bewahren. Wie im Rausch bog der Alte in Seitenstraßen, nahm Umwege durch offene Gärten, zwängte den Kombi zwischen nur ein wenig zu weit voneinander entfernt wartenden Autos hindurch. Die zwingende Art ihrer Fahrt ließ den jungen Mann wieder Hoffnung schöpfen. Eigentlich gehörte er doch gar nicht dazu, ermutigte er sich. Die Sache war doch nicht sein Problem. Wozu sollte er am Leid der Amis teilhaben? Er war doch Deutscher, Europäer.
Immer tiefer drang das Auto in die Stadt vor. Menschenmassen wälzten sich panisch durch die Straßen, vereinzelt irrten Personen, die offenbar ihren Verstand verloren hatten, hilflos oder in Selbstgespräche vertieft umher. Dann blieb das Auto stehen. Sie hatten den Flughafen erreicht. "Finish!" rief der Mexikaner, zündete sich eine Zigarette an und interessierte sich für seinen Fahrgast nicht mehr. Dankbar riss der die Tür auf und sprang hinaus.
Vor den Terminals herrschte unbeschreiblicher Tumult. Tausende Menschen drängten sich an den Eingängen und suchten Einlaß. "I'm German!" schrie der junge Mann wie zur Entschuldigung, wenn er sich wieder einige Meter vorgedrängt hatte, und andere, die er hinter sich gelassen hatte, ihm vor Verzweiflung hinterher zu schlagen versuchten. Er hatte nicht mehr weit zum Eingang, als die Flughafenverwaltung bekannt gab, dass das letzte Flugzeug soeben abgehoben habe, kein Mensch das Land mehr verlassen dürfe, und der Flughafen somit schloss.
Plötzlich schwindelte dem jungen Mann, und er glaubte den Halt zu verlieren. Das erste Mal war ihm bewusst geworden, dass auch er vielleicht Teil der Katastrophe war, dass auch er vielleicht sterben würde. Dann erinnerte er sich wieder, dass die Seuche ja nicht für ihn bestimmt war, und er begann zu laufen.
Es war früh am Morgen, als er das Konsulat erreichte. Er hatte einige nette Menschen gefunden, die ihm den Weg hatten zeigen können. In den Straßen war er den ersten Leichen begegnet.
Das Konsulat war geschlossen. Alle Mitarbeiter seien abgereist, stand auf einem an den Eingang gehefteten Fetzen Karton geschrieben. Die Straße war verlassen. Nur die Lichter der Straßenlaternen brannten. In der Ferne sank ein Mann auf dem Gehsteig zusammen. Er wußte nicht, ob es ein Penner oder ein Banker im Trenchcoat war. Er selbst sah mittlerweile wie ein beliebiger Penner aus. Er spürte, dass es vorbei war. Auch er würde sterben. Er befand sich am Ende des Wegs. Langsam ging er zum Bordstein hin, stieg hinab auf die Straße und setzte sich. Die Füße taten ihm weh. Er fühlte sich wie betäubt. Es war vollkommen still.