Samstag, 25. Dezember 2010

Die Wurzel der Moderne, nämlich das Ritual des Zweifels, das mit Descartes begann, ruht im Misstrauen gegen die Sinne




Die Wurzel der Moderne, nämlich das Ritual des Zweifels, das mit Descartes begann, ruht im Misstrauen gegen die Sinne. zurückzuführen ist dieses Misstrauen auf die großen Entdeckungen der Naturwissenschaften, die demonstrierten, dass die menschlichen Sinne die Welt nicht als das enthüllen, was sie ist, sondern im Gegenteil die Menschen nur in den Irrtum führen. Daraus folgte die Umdeutung des Common Sense. Der Common Sense nämlich (le bon sens) ist eine Art sechsten Sinnes, durch den alle besonderen, von den fünf Sinnen gegebenen Sinnesarten in eine gemeinsame Welt eingepasst werden.
Nach der wissenschaftlichen Revolution verwandelte er sich in eine Form von denken, die Hobbes "reckoning with consequences" nannte. Der Common Sense war nicht länger ein Konzentrat der Welterfahrung eines empfindenden Wesens, noch weniger eines der kollektiven Erfahrung, sondern wurde schlicht ein Vermögen des Geistes – ein "logisches Vermögen", das eine allgemeine Antwort auf die Frage des Zwei-und-Zwei garantierte, aber vollkommen unfähig war, uns durch die Welt zu geleiten oder überhaupt irgendetwas zu erfassen.

                                                                                         Hannah Arendt