Zehams Ende
(Part II, The Return, "Jetzt erst recht", o. ä.)
Einsam und mächtig lag an diesem Tag, hoch oben auf dem Zehamsberg thronend, die großartige Villa von Zeham.
Es war, wie so oft, ein mieser Frühlingstag, und ein kalter, bösartiger Regen klatschte schon seit der Nacht gegen das Bauwerk, im Sekundentakt unterbrochen von Windböen, die die Villa in der Art höchst unangenehmer Gedanken umpfiffen.
Im Speisesaal der Villa brannten die Kerzen. Melampo Luxemburgo von Zeham, amtierender Baron und Nachfahre einer glanzvollen und seit zwölf Jahrhunderten dokumentarisch erfassten Ahnenreihe, saß beim Mittagessen und beobachtete beinah wie unter Hypnose stehend seinen heutigen Gast. Es war sein erster privater Gast seit Ewigkeiten, wahrscheinlich sogar noch ein wenig länger, mindestens aber seit seine Frau ihn vor zwölf Jahren auf einer Party im Goldenen Hirschen sitzen gelassen hatte. Jockel, der alte Hausdiener, servierte gerade das Hauptgericht.
Von Zehams Gast saß am anderen Ende der Tafel in etwa zehn Metern Entfernung. Es war Silke, eine Freundin des Barons aus Studientagen. Völlig überraschend und ohne von Jockel gestoppt werden zu können, war sie heute Vormittag in Zehams Büro eingedrungen. Ihr Cabrio hätte eine Panne gehabt, hatte sie in einem nicht enden wollenden Redeschwall verdeutlicht, ihr Handy hätte wegen Überlastung kurz zuvor schon seinen Geist aufgegeben, und Zehams Villa sei die einzige Ansiedlung weit und breit gewesen. Einer Urgewalt gleich war der Auftritt der alten Bekannten Zeham in die Glieder gefahren und hatte sein brachliegendes Selbst völlig überraschend wieder zu überquellendem Leben erweckt. Entschlussfreudig wie schon seit Jahren nicht mehr hatte er Jockel sofort den ADAC verständigen lassen und Silke für die Zeit, in der man sich um den Mercedes kümmern würde, zum Lunch eingeladen.
Seit Silkes plötzlichem Wiederauftauchen befand die Wahrnehmung des Barons sich im Ausnahmezustand. Seine Sinne waren überreizt bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit, und mit der wilden, übersteigerten Empfindsamkeit eines ungebändigten Tiers, eines Panthers oder eines Flamingos etwa, nahm er nun wahr, wie Silke an ihrem Zackenbarsch mampfte, wie sie nach jedem Schluck Mineralwasser um eine Nuance tiefer durchatmete oder wie sie ihn alle paar Sekunden, in jenen raren Momenten, da sie gerade nicht redete, mit halb kuriosen, halb belustigt-gelangweilten Blicken fixierte. Jeden einzelnen Besteckteil, jeden Zinken ihrer silbernen Gabel, jeden Zacken ihres vergoldeten Fischmessers unterschied von Zehams feines Gehör im unaufhörlichen Klappern der Essgeräte auf ihrem Teller. Wie das Plätschern eines Sturzbaches während eines sonnigen Mittags auf der Himalaya-Südseite berauschte ihn der Klang ihrer Stimme, hypnotisierend wie das Geblubber eines vulkanischen Schlammlochs vor einer atemberaubenden tropischen Kulisse auf Hawaii oder einer Insel in Mikronesien.
Als von Zeham und Silke sich vor zwanzig Jahren das letzte Mal begegnet waren, war Silke noch eine doofe Studentin gewesen, mit schlechten Noten und ohne Ziel. Heute, nach einer beispiellosen Karriere, konnte sie sich Vorstandssprecherin des Bornemann-Kugelschreiberimperiums nennen, des größten Kugelschreiberherstellers der Welt.
Es war von Zeham unbegreiflich, dass er mit dieser unglaublichen Frau einmal im Bett gewesen war. Sie mussten dreiundzwanzig gewesen sein damals, hatten gemeinsam Assyrologie und Babylonistik studiert. Doch so sehr er jetzt auch wieder danach begehrte, körperlich hatte er jede Erinnerung an dieses Erlebnis verloren. Jene Residuen, die sich darüber noch in seinem Gedächtnis bewegten, von einer deprimierenden Blässe und Körperlosigkeit, so wie jede beliebige andere Erinnerung auch. Und das, obwohl Silke ihm damals fast einen Tag lang von einer zufälligen und reichlich unbeholfenen Unterhaltung in der Cafeteria-Schlange angefangen bis zum überhasteten und doppelt schmerzensreichen Abschied über die Feuerleiter die Welt bedeutet hatte.
Da sie nicht gewusst hatten, wann Silkes Freund nach Hause kam, war alles unter allerhöchstem Zeitdruck geschehen. Davor, am Nachmittag, hatte von Zeham noch Polo gespielt. Wie ein Hochglanzfoto hatte er jetzt plötzlich wieder das Bild, wie sein Helm, seine Reitstiefel, sein Sattel, seine Schockemöhle-Reithosen und sein Birkenbihl-Genitalschutz in säuberlich angeordneter Reihe neben dem Campingkocher in Silkes zusammengefallener Studentenbude an der Wand herumstanden, vor Augen.
Verglichen mit ihrer heutigen Erscheinung war die damalige Silke pummelig und in beinah jeder Hinsicht bis hin zu ihrer viel zu knappen und alles an ihrem Köper zum Quellen bringenden Kleidung trampelhaft gewesen.
Wenn von Zeham sie heute ansah, diese blendend aussehende, reife Frau mit den kontrollierten Bewegungen, den prägnanten Gesichtszügen, der tiefen, selbstbewusst-wohltönenden Stimme, dem maßgeschnittenen Hosenanzug, dann war das eine völlig andere Frau, dann war ein Vergleich mit der dreiundzwanzigjährigen, in vielen Aspekten eher wie zwölfeinhalb wirkenden Silke nicht mehr möglich.
Er selbst war damals keinen Deut souveräner gewesen als sie. Das gab er heute ohne weiteres zu. Gerade diese Unvollkommenheit machte die Studentenschaft ja aus. Als wäre es eben erst gestern geschehen, so deutlich hatte er die ausgeleierten grauen Gummiträger ihres BH's in Erinnerung, wie er mit bebenden Händen den Verschluss über ihrem Rücken aufzuklipsen versucht hatte, wie sie sich schlussendlich halb die Arme ausgerenkt hatte, um den Verschluß selbst noch irgendwie aufzukriegen...
Jockel räumte den Tisch ab.
"Wünschen sie noch etwas, Baron?" fragte der greise Bedienstete mit heiserem Organ.
"Wie wär's mit zwei Mokkas, Jockel? Und wieso holst du nicht die Gorillas rein?" meinte von Zeham nach einer kurzen Phase des Überlegens.
"Und das Fräulein?" fragte Jockel weiter.
Zur rechten Hand des Barons saß seine Tochter, die wunderschöne, erst dreizehnjährige Gunilla-Tamara-Lara. Sie hatte kaum etwas gegessen bis zu diesem Zeitpunkt und schien ihrem Gesichtsausdruck nach maßlos verdrossen zu sein. Ganz offensichtlich interessierte der Diener sie in diesem Moment überhaupt nicht. Stattdessen fuhr sie fort, so wie die ganze Mahlzeit über schon, wütend auf ihren Vater einzustarren.
Jockel, der es an der Hüfte hatte, trat hinkend ab. Silkes ununterbrochener Redefluss drang indessen weiter zu den Zehams herüber. Sie ließ sich gerade über die neuesten Entwicklungen bei Bornemann aus, über die Internet-Kugelschreiber, und welch riesiges Geschäft diese Bornemann-Erfindung, die, wie sie erklärte, eigentlich ihre eigene, genuine Idee war, darstellte.
Was war nur aus ihm geworden, dachte von Zeham sich in einem Moment des totalen geistigen und moralischen Zusammenbruchs. Als junger Mensch war er im Grunde noch ein umgänglicher Charakter gewesen. Heute kam er sich manchmal vor wie einer von diesen frustrierten Alt-Adeligen, die samstags kurz vor Ladenschluss noch schnell ihren Geschäftsführer ins Antiquariat schickten, um ihnen "Dreizehnlinden" oder irgendein anderes Machwerk von einer Flasche wie Wilhelm Weber zu besorgen, weil sie weder mit sich noch mit der Welt mehr etwas anfangen konnten. Er hätte darauf wetten können, dass diesen Menschen an solchen Tagen kein Weber auf der Welt mehr was brachte, dass sie, egal welches Buch, es daheim nach spätestens einer halben Seite irgendwohin in die Ecke zurückpfefferten.
Früher hatte er diese Gestalten immer verachtet. Doch so viel hatte er dem verkommenen Rest des Hochadels zumindest noch voraus: Dass er Webers gesammelte Werke schon seit Jahrzehnten in einer Prachtausgabe besaß, und dass er wusste, dass die Versepen dieses Scharlatans auch nichts brachten, ja, den Stumpfsinn sinnenentleerter Existenz mit der größten anzunehmenden Sicherheit gar noch steigerten.
Was war nur aus seinem Leben geworden! Alles erschien Zeham öde und abgeschmackt, abgegriffen und sinnlos...- Und was war das nur für eine Wahnsinnsfrau!
"Buon Martino, Don Luxemburgo!"
Das waren ihre einzigen Worte gewesen, nachdem sie seine Bürotür wirkungsvoll aufgerissen und wieder zugeknallt hatte. Diese vier, sich allein durch das Selbstbewusstsein, mit dem sie vorgetragen worden waren, Gültigkeit verschaffenden Worte, hatten schon genügt, um Zehams schlaffe Lebensgeister aus ihrem Tiefschlaf zu wecken. Mit einem Mal war er sich wieder wie Dreiundzwanzig vorgekommen!
Dieses Mal allerdings hatten seine Avancen nicht das erhoffte, sondern ein völlig unerwartetes und äußerst schmerzhaftes Resultat gezeitigt...
Zu Anfang hatte Silke gar nicht verstanden, was Zehams Annäherungen bedeuten sollten, und hatte weiter von ihrem kaputten Handy gesprochen. Als er dann aber langsam begann, ihr fingerfertig an die Wäsche zu gehen, verpasste sie ihm einen Magenschwinger, der es fertigbrachte, ihm innerhalb von Sekundenbruchteilen das Nervenwasser in die Augen zu treiben.
Eine kurze Ewigkeit lang hatte er geglaubt, sterben zu müssen, und war atemlos in die Knie gegangen. Dann hatte Silke zu lachen begonnen, kalt und grausam, wie nur Frauen mit entsprechender Selbsteinschätzung und im Bewusstsein ihrer überlegenen Position es vermögen.
Gunilla-Tamara-Lara hielt es in der Zwischenzeit nicht mehr aus.
"Jetzt reiß dich endlich zusammen, Papa!" zischte sie mit der moralischen Gewissheit eines pubertierenden weiblichen Teenagers, zu ihm hinüber. "Merkst du denn nicht, dass die Frau total plemplem ist? Ich kapier überhaupt nicht, wie du mit der Kuh mal was haben konntest. Die hat doch nur Autos und Kugelschreiber im Kopf. Da bleib ich doch lieber mein Leben lang allein, bevor ich mit so einer bloß fünf Minuten lang was zu tun hab!"
Doch von Zeham hörte seine Tochter nicht mehr. Nur immer weiter lauschte er der magnetischen Anziehungskraft von Silkes Stimme, die immer noch über Kugelschreiber parlierte, und wie diese Schreibgeräte ihr Leben und ihre Karriere verändert hatten.
Damit hatte Gunilla-Tamara-Lara genug. Sie fetzte ihre Serviette auf den Tisch und verließ den Raum, indem sie Silke noch schnell eins von der Seite mitgab. Silke indes, mit allen Wassern des toughen Lebens im Hochbusineß gewaschen, ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen und redete unbeirrt und ohne im Ton auch nur einen Moment nachzulassen weiter.
Unbestimmte Zeit verging. Dann hörte von Zeham Gläser klirren. Jockel war mit den Mokkatassen über den Barwagen gestolpert, und Diener, Tassen, Wermut-, Whiskey- und Weißwurzel-Doppelbrandflaschen, Sodakaraffe, Eiskübel und Eispinzette gingen in diesem Moment gleichermaßen zu Boden. Die Gorillas, die mit Jockel hereingehüpft waren, saßen ruhig ein paar Meter entfernt und beobachteten das Geschehen mit interessiert heraustretenden Augen. Jockel landete krachend auf dem Parkett und fasste sich röchelnd an den Hals. Einer der beiden Affen kratzte sich unvermittelt am Kopf.
"Was hat er denn?" fragte Silke und betrachtete Jockel neugierig.
"Ich weiß nicht." antwortete von Zeham wie aus einem Nebel heraus. "Vielleicht hat er einen Glassplitter abbekommen. Er hat es auch mit dem Herzen."
Da plötzlich starteten die Gorillas ganz ohne Vorankündigung eine wilde Verfolgungsjagd um den Tisch herum. Stühle flogen, einige byzantinische Vasen und Teile des Linderhofer Porzellanservices gingen dabei zu Bruch. Dann schlugen sie in der Art zweier Stummfilmkomiker einen synchronen Salto und landeten krachend auf ihren Köpfen. Wie zu Eis erstarrt kippten sie nach links und rechts um. Reglos blieben sie schließlich am Boden liegen. Silke war inzwischen hochgesprungen und kniete sich beunruhigt und etwas ratlos über den sich kaum mehr bewegenden Diener.
Das Benehmen der Gorillas hatte selbst von Zeham ein wenig stutzen lassen. Die Tiere waren eigentlich sehr bedächtige Wesen, die sich jede einzelne ihrer Bewegungen wohl überlegten, die sich normalerweise überhaupt erst bewegten, wenn es etwas zu futtern, zu gluckern oder zu zerfleischen gab. Noch mehr verwunderte es ihn allerdings, dass sie jetzt anfingen, sich nach und nach in zwei sitzende Bronzebuddhas zu verwandeln.
Nun fasste auch Silke sich an den Hals, wurde mit einem Mal breiter, fetter und eckiger, bis sie auch das letzte Gran Weiblichkeit abgelegt hatte und aussah wie die perfekte Kopie eines nicht eben zierlichen, fabrikneuen Fröhling-Heizkessels. Und auch von Jockel war, wie von Zeham jetzt bemerkte, nichts mehr zu sehen. Vermutlich hatte der sich in den ausgeschlagenen Zylinder eines alten C-Kadett verwandelt, der mittlerweile zwischen den Scherben in der Schnapspfütze am Boden lag.
Draußen hob ein beständiger Hupton an. Zeham wischte sich kurz die Mundwinkel ab, schob seine Serviette ein Stück unter seinen Teller und ging an die große Fensterwand des Speisesaals, von wo aus er gerade noch sah, wie ein Touristenbus von einer der Serpentinen zur Villa hoch abkam, abstürzte, sich ein paar Mal überschlug und mit durchdrehenden Rädern liegenblieb.
Zeham schätzte die Touristen nicht. Sie pflegten ihn und Jockel wie zwei Außerirdische anzustarren. Zu Zehams Unglück waren diese Menschen aber unvermeidbar notwendig, um ihm eine standesgemäße Lebensführung und das Internat für Gunilla-Tamara-Lara zu finanzieren.
Panik schien unter den Buspassagieren einzusetzen. Massenhaft stürzten sie aus der Eingangstür und den zerdepperten Scheiben des Komfort-Busses, einer sprang sogar einem Stuntman gleich durch die noch unbeschädigte Frontscheibe des Fahrzeuges und landete blutüberströmt im Distelgestrüpp. Einige der Touristen fingen an, sich an die Brüste und Hälse zu fassen und schienen verzweifelt zu versuchen, irgendwie noch ein Minimum an Atemluft zu ergattern. Andere kippten einfach vornüber oder hinterrücks um. Alle von ihnen allerdings verwandelten sich letztenendes in die Bestandteile eines Windspiels des genialen Aktionskünstlers Rosenstock von Kai-Wilhelm-Bono. Dieses Windspiel bestand aus einer größeren Gruppe elegant-schlanker, leicht im Winde schwingender Orgelpfeifen. Kam der Wind aus Osten, bliesen die Pfeifen den Tristanakkord, kam er aus Westen, das Forellenquintett. Bei Nord- oder Südwind aber gaben sie überhaupt keinen Ton von sich, sondern verneigten sich in die jeweilige Richtung wie eine Gruppe Kulis vor ihrem Herrn.
Plötzlich ertönte ein mächtiges Scheppern, und von der Villa aus donnerte ein riesiger weißer Metallspitz den Zehamsberg hinab. Es war Gunilla-Tamara-Lara, von Zehams Tochter. Sie war zur Spitze der Concorde geworden...
Melampo Luxemburgo von Zeham hob den Kopf. Die Regenwolken hatten sich aus dem Staube gemacht. Raketen zogen aus allen Himmelsrichtungen über den Himmel, in der Ferne zerbröselte gerade der Stolz der deutschen Nation, die verkommenen Bankentürme der Megastadt Frankfurt.
Der frühzeitig gealterte Mann, mit vierzig sah Zeham schon aus wie andere erst mit siebenundsechzig, schien dies alles wie im Traum wahrzunehmen. Scheinbar gleichgültig betrachtete er das weitere Fortschreiten des Verhängnisses, und dachte nur immer weiter daran, was aus ihm geworden war, viel zu wenig nämlich, eigentlich gar nichts. Weder war er ein repräsentativer Adeliger geworden, noch ein qualifizierter Assyrologe. Er war noch nicht mal ein guter Kapitalist. Vor allem aber hatte er es verabsäumt, sein flüchtiges Tete-a-tete mit Silke, der Wahnsinnsfrau zu vertiefen. Jetzt war es dazu zu spät. Sie hatte sich in einen Sechsundachtzig-Kilowatt-Fröhling-Heizkessel verwandelt.
Das Bild eines hinreißend gerundeten Frauenkörpers, der gleichsam allegorisierten Silke schlechthin, vor Augen, schrumpfte Zeham zu einem winzigen Zahnrad aus Braunschweigisch-Solingischem Hartstahl. Gähnend tat die Erde sich auf, und hinab sank das blaublütige Zahnrad ins Innere des Planeten, vorbei an hunderten Kilometern komplizierter Mechaniken und Getriebe, bis es schließlich sein Plätzchen fand, auf einem dünnen, offenbar nutzlosen, leerstehenden Stäbchen, worüber es einrastete und anfing, sich tickend im Uhrzeigersinn zu bewegen.