Sonntag, 21. August 2011

Künstlerdasein



Künstlerdasein

Der Schriftsteller Harm Schokolinda von Rüsselsheim gehörte zu den ganz wenigen Vertretern seines Fachs, denen es gelang, Komik mit einem gewissen grundsätzlichen Ernst zu verbinden. Dies mag einer der Gründe sein, warum Schokolinda von Rüsselsheim nur sehr selten mit dem Prädikat eines Clowns, Comedians oder Klamaukiers bedacht wurde. Viel öfter fiel in diesem Zusammenhang das Wort des Künstlers, und es klang darin etwas wie Respekt für eine gewisse außergewöhnliche Härte, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit mit.
Es ist noch nicht lange her, da hatte Harm Schokolinda von Rüsselsheim seinen jüngsten Erzählband herausgebracht, und es war der Tag herangerückt, da es für ihn galt, die von seinem Verleger zur Sicherung des Absatzes unumstößlich eingeforderten Presse-Interviews hinter sich zu bringen. Journalisten aus dem ganzen Land waren zu dieser Gelegenheit angereist, und gaben einander Schokolinda von Rüsselsheims Haustürklinke in die Hand.
Es ging nun bereits auf die Mittagsstunde zu, und Schokolinda hatte bereits mehrere Dutzend Interviews absolviert, als die Reihe an einen jungen Journalisten der kleinen Zeitung aus der nahen Kreisstadt kam. Schokolindas Frau, eine quirlige, eher korpulente Person mit gewaltiger Sonnenbrille, einer kaum weniger imposanten Micky Maus-Armbanduhr und einem Hausanzug, auf dem wahrscheinlich alle Grün- und Rosa-Töne, die ein menschliches Auge wahrnehmen konnte, zu finden waren, hatte an diesem Tag, wie so oft, die Rolle von Schokolindas Assistentin übernommen. Sie versicherte sich noch einmal der Liste auf ihrem Klemmbrett, auf welcher alle Termine des Tages notiert waren, zupfte daraufhin den jungen Mann aus der Reihe der Wartenden heraus und ließ ihn zum Meister vor.
Rasch waren die vorgegebenen zehn Minuten Gesprächszeit vorüber, und der neue Gesprächspartner war Schokolinda höchstens durch seine höfliche Art und sein für sein Alter überraschend selbstkritisches Bewusstsein aufgefallen. Nicht indes durch seine Fragen, die vollkommen gewöhnlich gewesen waren, und von denen Schokolinda jede einzelne an diesem Tag bereits viele Male gehört hatte. Der junge Mann war schon wieder im Gehen begriffen, als er plötzlich wie in Gedanken verharrend stehen blieb und sich noch einmal zu dem Dichter hin umdrehte.
Schokolinda war besonders lächerlich gekleidet an diesem Tag. Mit seiner altmodischen Boris Becker-Frisur, dem aufgeklebten Orson Welles-Bart und seinem Anzug nach Art eines dummen August saß er ruhig und lächelnd da wie eine personifizierte Witzfigur.
"Wenn sie mir noch eine persönliche Frage erlauben." sagte der Journalist nun. "Sie ist ein wenig kompliziert, aber dieser Gedanke beschäftigt mich schon, seit ich heute Morgen hierher gefahren bin. Selbstverständlich würde die Antwort unter uns beiden bleiben. Die Frage ist folgende: In meiner Vorstellung besitzt jeder Künstler so etwas wie ein spezielles Bewusstsein, ein Bewusstsein, das, wie ich denke, sich vom Bewusstsein anderer Menschen, auch anderer Schreibender, etwa von Journalisten wie mir, unterscheiden muss. Ich habe selbst schon verschiedene künstlerische Versuche in eine gewisse Richtung unternommen, verfüge auch über Ideen, aber das läuft alles sehr planmäßig ab, und ich habe noch nie wirklich das Gefühl gehabt, ein Künstler zu sein. Auch wenn ich es mir manchmal vielleicht gewünscht habe. Was ich mich nun frage, was mich interessieren würde, ist, wie sie zu diesem künstlerischen Bewusstsein gekommen sind, wie sie es erlangt haben."
Schokolindas ohnehin schon fröhliches Gesicht war auf die Frage des jungen Mannes hin aufgeblüht.
Er rief nun "Ein paar Minuten noch, Liebling, danke, Bussi!", und meinte damit seine Frau, die gerade ihren Kopf hereingesteckt hatte. Dann bat er seinen Gast, sich noch einmal zu setzen und setzte zu folgender Erklärung an:
"Zufällig kann ich ihnen sogar recht genau sagen, wann ich angefangen habe, so etwas wie ein echtes künstlerisches Bewusstsein zu spüren, vorausgesetzt natürlich, sie behalten diese Angelegenheit für sich."
Noch einmal versicherte der junge Mann, Schokolinda könne sich vollkommen auf ihn verlassen. Sein Interesse sei rein persönlicher Natur.
Schokolinda schien ihm zu glauben, schien es auch vorher schon geglaubt zu haben, und fuhr deshalb ohne Verzögerung fort.
"Ich war damals wahrscheinlich noch jünger als sie, zwanzig vielleicht, und stand wie so viele einer Kunstform zugeneigte Menschen vor der Frage, ob ich mein Leben, so wie ich es eigentlich wollte, ganz dem künstlerischen Dasein widmen sollte.
Meine Familie, und meine Eltern besonders, bedrängte mich damals immer stärker, ein Jura-Studium anzufangen. Aber mich für Jura zu begeistern war unmöglich, und ein Leben als Künstler zu führen erschien mir zwar romantisch, aber auch erschreckend fremd und ungewiss. So überlegte ich wochenlang hin und her und merkte, dass ich einer Entscheidung nicht näher kam. Da traf ich durch Zufall zum zweiten Mal auf Hugurbanipal, einem heute wie damals völlig unbeachteten Dichter und Liedkomponisten.
Das erste Mal hatte ich Hugurbanipal als singenden Aufseher in einem Ferienzeltlager erlebt. Das war damals schon vier oder fünf Jahre her. Jetzt sah ich ihn zufällig in einer Göppinger Kneipe auf dem Podium stehen und Gedichte vortragen. Seine Gedichte waren so frei und subjektiv, dass keiner der Anwesenden sie verstand, sie waren, offen gestanden, auch für mich furchtbar, und ich war froh, als der Typ die Bühne endlich verließ. Hugurbanipal kam sein Leben lang nicht zu künstlerischen Ehren. Und man könnte vielleicht sagen zu Recht, denn das, was ich doch für das Ziel eines jeden Künstlers ansehen möchte, ist ihm nie gelungen, nämlich den Reichtum seiner Innenwelt in eine für sein Publikum verständliche, anregende und inspirierende Form zu bringen.
Trotzdem war Hugurbanipals Selbstbewusstsein grenzenlos. Es gab nichts, das ihn von seinem Weg hätte abbringen können. Ich hatte das schon im Zeltlager, als mich noch ganz andere Dinge beschäftigt hatten, gespürt, und jetzt, schon ein wenig reifer, tat ich das noch mehr.
Ich lud ihn auf ein Bier ein, was er begeistert annahm, vor allem wahrscheinlich, weil er völlig abgebrannt war. Ich begann, ihm von meinen Schwierigkeiten zu erzählen. Hugurbanipal erwiderte, dass er diese Situation sehr wohl kenne, weil es fast jedem Künstler von Berufung so gehe, bevor ihm seine tatsächliche Situation langsam dämmere. Und dann fing er an, mir die Grundlagen seiner künstlerischen Existenz auseinander zu legen.
Ich hatte schließlich das Glück, kurz darauf mit der Veröffentlichung meines ersten Sketch-Romans finanziell unabhängig zu werden, aber selbst wenn Studium und Beruf für mein Leben notwendig geworden wären, so hätte das meine Existenz als Künstler von nun an nicht mehr erschüttern können. So tief war die Veränderung, die Hugurbanipals Erklärungen in mir verursacht hatten, so tief hatten mich Hugurbanipals Gedanken in ihrer ganzen Lächerlichkeit beeindruckt. Und es wäre auch egal gewesen, hätte ich mein Leben noch anders gestaltet, sei es als Anarchist, als Anarch, als Klassiker, als Rockstar, Jurist, Schüsselspüler oder was auch immer.
Was Hugurbanipal mir damals gesagt hatte, und wie ich es mir seither ein wenig verändert zurechtgelegt habe, war Folgendes:
Man stelle sich eine pastellfarbene Landschaft vor, etwa wie in einem Zeichentrickfilm aus den frühen Siebziger Jahren, mit steilen, gerundeten Hügeln, ab und zu einem riesigen, farbigen Gummibaum, und die ganze Gegend über und über mit Straßen übersät. Der Künstler ist, wie so viele andere Menschen auch, als Solist in dieser Welt unterwegs, und das in einem Fahrzeug, das alles Mögliche sein kann, vom heruntergekommenen Seifenwagen bis hin zum Oldsmobile mit dreihundert PS. Doch was für ein Fortbewegungsmittel es auch immer sein mag, es fährt immer von selbst, es fährt bergauf und bergab, je nach Stimmung und wie es gerade kommt, bleibt gelegentlich einfach stehen, und es kostet den Künstler die größte Mühe, die Fahrt dieses Gefährts zu beeinflussen. Wenn überhaupt, kann er das nur, indem er mit den Füßen bremst oder aussteigt und mit anschiebt.
Um ihn herum auf den Straßen herrscht währenddessen, die Anstrengungen des Künstlers größtenteils nicht beachtend, der dichteste Autoverkehr.
So stellen sich Situation und Gefühlslage des Künstlers dar. Vieles geschieht dabei von selbst, wie sie sehen. Aufgabe des Künstlers in dieser Lage muss es dennoch sein, die Fahrt seines Autos, soweit es ihm möglich ist, zu steuern und zu beeinflussen, und er tut das natürlich durch Bewusstmachung, sprich Aufmerksamkeit, Reflexion und Konzentration.
Wie ein Mensch aber in ein solches Fahrzeug hineinkommt, kann niemand beantworten. Ich glaube nicht, dass jemand das in der eigenen Hand hat. Entweder ist es Veranlagung oder die Umwelt macht einen dazu. Wahrscheinlich ist es beides. Jeder Mensch hat das Schöpferische ja im Blut, und nützt es auf die eine oder andere Weise, aber allein aus dem Willen heraus zur doch recht seltenen, reinen Künstlerexistenz zu gelangen, da halte ich für unmöglich."
Lächelnd legte Schokolinda eine kurze Pause ein und sah dem Journalisten ins Gesicht. Er betätigte eine Fernsteuerung in seiner Hosentasche, woraufhin seine Frisur für kurze Zeit nach oben klappte. Es war ein Toupet, und darunter kam eine zweite Boris Becker-Frisur zum Vorschein. Das Toupet klappte wieder zurück.
"Ich hoffe, ich habe ihnen damit ein wenig weiterhelfen können." fuhr er fort. "Künstlertum ist nichts Absolutes, wissen sie. Es gehört immer auch eine Menge Frust, Arbeit, Trivialität und völlig normales Leben dazu. In der Mehrheit sogar. Jeder trägt ein wenig Künstlertum in sich, auch sie, in ihrem grauenhaften Journalistenanzug, den sie vermutlich nur tragen, weil ihr Chefredakteur, Kleiderberater, Schulungsagent oder irgendein Professor es ihnen befohlen hat. Es ist vielleicht nur eine Frage des Schwerpunktes. Der Künstler ist fähig, diesen Schwerpunkt in allem, was er tut, zu setzen. Und er braucht dazu weder Erfolg noch das große Geld.
Man sollte dabei aber eine gewisse grundsätzliche Nüchternheit nie verlieren. Das Bild, welches ich ihnen eben geschildert habe, ist für mich persönlich phänomenal einleuchtend, und hilft mir, wann immer ich daran denke, zu meinem eigentlichen Tun zurück zu finden. Für andere, die sich nicht weniger Künstler schimpfen dürfen, ist es vielleicht völlig banal.
Wie ich schon gesagt habe: Jeder trägt ein Künstlertum in sich, und solange er sich in dem, was er tut, mit ehrlichem Gewissen bemüht, schafft er Kunst, und zwar alle, ich, sie, und auch mein Bruder Rolf, der sich seit Jahrzehnten als, wie ich fürchte, zurecht nicht sehr erfolgreicher künstlerischer Korbflechter versucht.
Es klopfte ganz sacht an der Tür, und Schokolindas Frau steckte ihren Kopf von neuem ins Zimmer. Ein wenig nervös deutete sie auf die riesige Micky Maus, die im fröhlichen Trab auf ihrer noch viel riesigeren Armbanduhr im Minutentakt ihre Kreise zog. Dieses Mal fügte Schokolinda sich, erhob sich aus seinem Sessel und reichte dem Journalisten die Hand.
"Ich wünsche ihnen Glück und alles Gute bei ihrem weiteren Tun."
Der Journalist bedankte sich herzlich für die ihm extra bewilligte Zeit. Einen Moment lang hielt er inne und bemerkte entsetzt, dass er mit einem Mal Rüsselsheims Hand zwischen seinen Fingern hielt. Doch es war nur eine Scherzhand aus Plastik. Er gab sie dem Schriftsteller zurück, und nachdenklich, doch in heiterer Stimmung verließ er den Raum.