Sonntag, 17. Januar 2010

Kepler


Beitrag für irgendeinen Schreibwettbewerb, ich weiß nicht mehr, welchen. Für meine Begriffe weit witziger als die äußerst elende Siegerarbeit. Wie oftmals, stand ich mit dieser Ansicht allein.



Kepler

Dagmar machte die Augen auf. Ihr Schlafzimmer lag im Dunklen. Sie war sich sicher: Irgendein Geräusch hatte sie gerade aufgeweckt, jetzt aber war es wieder vollkommen still. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Ursache für dieses vegetative Symptom lag für eine Logikerin wie Dagmar natürlich klar auf der Hand. Nicht Angst etwa, wie bei schwächeren Individuen, war es, sondern ganz simpel der Ärger darüber, dass eine mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit unnötige Störung ihren Schönheitsschlaf interruptiert hatte.
Vom anderen Ende ihres Schlafzimmers kam ein Scharren.
Eine Stimme stotterte: "Da-Da-Da-Dagmar?"
Dagmar wurde misstrauisch. Sie machte ihre Augen schmal.
Im nächtlichen Dämmerlicht erkannte sie jetzt einen Mann am hintersten ihrer zwölf Kleiderschränke, und seiner abgehärmten Silhouette nach konnte es sich nur um einen ganz bestimmten Mann handeln...
"Johannes!" entfuhr es ihr. "Was in drei Fuders Namen treibst du da hinten?"
Dagmar machte das Licht an. Es war unfaßbar. Der Mann, der dort augenscheinlich im entferntesten Eck ihres Schlafzimmers nach ihr suchte, war Johannes Kepler, der berühmte Mathematiker, Theologe und Ex-Hofastronom unter Rudolf dem Zweiten. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dieser Blindgänger um halb fünf Uhr früh in ihrem Schlafzimmer zu suchen hatte. 
"Johannes!" rief sie nochmal und betätigte die Druckluftsirene, die sie, nicht ohne Nutzen, stets auf ihrem Nachtkästchen herumstehen hatte.
Mühsam kam Kepler hinter dem Schrank hervorgekrochen und erhob sich nach Dagmars Dafürhalten selbst für seine Begriffe zu umständlich und theatralisch.
Endlich stand er und stieß ein überraschtes "Dagmar!" aus.
Dagmar lag nackt und halb zugedeckt in ihrem Wasserbett. Sie überlegte kurz. Ihr Anblick konnte es kaum sein, der Kepler so überrascht tun ließ. Jede erotisch aufgeklärte Frau ihres Zeitalters und ihrer gesellschaftlichen Position schlief in Wasserbetten und ohne Kleidung. Sie selbst hatte nicht unmaßgeblichen Anteil an diesem weit freieren und unabhängigeren, weil textilfreierem Zustand weiblichen Daseins.
"Johannes." verlangte Dagmar nun ruhig, aber sehr entschieden, und mit einer Ungeduld im Tonfall, die Kepler nicht ignorieren konnte. "Ich möchte, dass Du mir umgehend und ohne Verzögerung mitteilst, was du um diese Zeit hinter einem meiner Schlafzimmerschränke machst."
"Was ich hier mache?" rief Kepler zurück und kratzte sich den Kopf. "Potz Zweihunderttausend! Was ich hier mache, fragt sie. Meine Hose - Ich suche meine Hose natürlich, was sonst!"
Dagmar verdrehte sie Augen. Es war unfassbar, was Kepler doch für eine Niete war. Als so maximal wie magnifikabel erfolgreiche Werbemanagerin stand ihr ein angemessenes Urteil über diese Tatsache zu. Nicht allein war sie die erste Werbemanagerin in Landshut, nein, sie war es im ganzen Heiligen Römischen Reich überhaupt, und da gab es Legionen zu tun, wie jeder vernunftgeleitete Mensch sich vorstellen konnte. Die nächsten drei Wochen hatte sie bereits völlig verplant.
Keplern war sie bisher in ihrem an Ereignissen wahrhaftig nicht armen Leben erst einmal begegnet.
Ein paar Monate war es her, da hatte sie, allein des sozialen Impetus wegen natürlich, eine seiner Vorlesungen besucht. Dass Kepler nichts draufhatte, hatte sie damals schon gemerkt. Heliozentrismius, Brennpunkte, Planetenkräfte, und was immer sonst Kepler auf so peinlich professorale Art propagierte, das alles war Humbug, der zu nichts führte und mit dem Kepler den Leuten auf dem Säckel hockte. Dagmar war modern und deshalb eine Anhängerin des Ptolemäischen Weltbildes. Schwachsinn, wie etwa der Begriff eines beweglichen Fixsterns, interessierte sie ebensowenig wie die Spielereien des Luigi Galvani, der erst in 116 Jahren geboren werden sollte. 
Aber was war jetzt mit Keplers Hose? Gut, sie hatte so etwas wie eine kurze Affäre mit ihm gehabt. Aber was sagte das schon? Kepler war eine Null, und sie hatte diese absurde Angelegenheit schnellstmöglich wieder zu Ende gebracht. Und was die Hosen betraf: Kepler war nicht gerade bekannt dafür, seine Hosen oft zu wechseln, tatsächlich waren, wenn sie sich recht erinnerte, die Hosen, die er jetzt trug, dieselben Hosen, die er damals zu jenem singulären Ereignis auch angehabt hatte. Ein bestimmter grünlicher Kohlrabi-Saucenfleck darauf kam ihr mehr als bekannt vor.
"Na, was ist jetzt mit den Hosen?" fragte sie Kepler und drückte noch ein paar Mal auf ihre Presslufthupe, um den Wissenschaftler in die Gänge zu kriegen. Sie hatte nicht ewig Zeit. Ja, eigentlich hatte sie nicht einmal fünf Minuten Zeit.
"Äh, die Hosen, ja, die Hosen." stotterte Kepler und faltete nachdenklich die Hände.
Gott, was war das doch für ein Langweiler, dachte Dagmar sich. Ihr Terminplan war einfach zu voll für solche Blindgänger. Gerade jetzt, wo die Werbewirtschaft boomte wie niemals zuvor. Und Landshut, jene Stadt, die später einmal das L.A. Ostbayerns genannt werden sollte, lag auch noch im Zentrum des Ganzen. Es war noch gar nicht abzusehen, wie sehr die Umsätze anziehen würden, wenn erst einmal der Kaffee, der Hit, der gerade unaufhaltsam aus der südwestlichen Hemisphäre herangezogen kam, eingeschlagen hatte. Und Dagmar wusste auch schon, wie sie es anstellen würde. Riesenplakate mit einer Frau, die sich Frau Sommer nannte, über ganz Europa verteilt. Diese Frau würde der Knüller der ganzen Dekade werden, von Warschau bis Paris. Und sie würde eine Dauerwelle haben! Doch da hatten wir auch schon das Problem: Die Dauerwelle wurde erst in 320 Jahren erfunden. Andererseits haben Paradoxa Dagmar noch nie aufgehalten. Sie war eine Macherin, und würde auch dieses Problem zu solvieren wissen.
Plötzlich fiel ihr Kepler wieder ein. Der Astrologe stand immer noch da wie ein Fragezeichen.
"Was ist denn jetzt?" fragte sie ihn.
"Äh, ja, das frage ich mich natürlich auch." sagte Kepler.
Dagmars Geduld erreichte nun ihre Grenze. Priorität um diese frühe Zeit, es war immer noch erst fünf nach halb Fünf, hatte ihr Schönheitsschlaf und sonst nichts.
 Sie dachte für einen kurzen, aber nicht zu langen Moment an die Harmonia Mundi. Dieser Begriff war so ziemlich das einzige, was sie bei Keplers Gefasel wirklich hatte stehenlassen können. In leichter Abwandlung natürlich. Denn bei ihr, und da lag sie im offenen Gegensatz zu Kepler, war die Harmonia Mundi noch nicht existent, und vor allen Dingen nicht ewig. Sie war das Ergebnis harter Arbeit, und würde erst erreicht sein, wenn selbst die Chinesen Frau Sommers Kaffee tranken.
"Geh mal einen Schritt nach links, Johannes." sagte Dagmar jetzt in einem Ton, dem bisher noch kein Mann in diesem Erdquadranten zu widersprechen gewagt hatte.
Kepler tat zögernd, wie ihm geheißen.
Dagmar drückte einen Schaltknopf an ihrem Nachtkästchen, woraufhin eine Falltür unter Kepler sich auftat und der Wissenschaftler durch die entstandene Öffnung mit einem angstvollen Stöhnen verschwand.
Dagmar hatte die Falltür vor langer Zeit schon für alle Fälle einbauen lassen. Sie hatte sich nicht zum ersten Mal bewährt. Kepler würde direkt im Straßengraben vor Dagmars Nachbarhaus, dem Polizeihauptquartier landen. Den Rest würde Schnitzelbaumer, der Polizeichef von Landshut, erledigen. Schnitzelbaumer war ein Dagmars Massagekünsten seit Jahren treu ergebener Mann,
Die Falltür hatte sich wieder geschlossen. Dagmar schaltete das Licht aus und löschte Keplers Namen aus ihrem Gedächtnis. Rasch sammelte sie noch einige Ideen für die Frau Sommer-Kampagne, bevor sie wieder zurückfiel in tiefen und erholsamen Schlaf.