Rehe am Sonntag
Sonntagmorgen, neun Uhr. Ein Regentag. Leise rieselt das Nass vom hellgrauen Himmel und klopft auf die Dachziegel und –rinnen des Hauses, landet auf den Blättern und Gräsern des Obstgartens.
Zwei Rehe, eine Geiß und ihr Kitz, nutzen den Umstand, dass die Bewohner des abgelegenen Weilers noch schlafen an diesem Tag, treten lautlos aus einem der angrenzenden übermannshohen Maisfelder heraus und begeben sich friedsam auf Futtersuche.
Zu Anfang folgt das Kitz vorsichtig seiner Mutter durch das erst vor kurzem gemähte Gras. Dann schweift es, von plötzlicher Lust ergriffen, nach einigen Beeten hin, schnuppert an Karotten, Schnittlauch und einer Blumenrabatte, und kehrt, als es sieht, daß die Mutter sich ein wenig entfernt hat, mit raschen Stelzenschritten zu dieser zurück.
Endlich, an einem Zwetschgenbaum, wo der Boden übersät ist mit herumliegenden Zwetschgen, machen sie Halt und beginnen sogleich die Früchte mit großen Schlücken und schleckenden Mäulern aus dem nassen Gras aufzuessen.
Immer wieder einmal, auf ein Geräusch oder einen aufflatternden Vogel hin, oder auch nur zur Sicherheit, blickt eins der beiden dabei mit gespitzten Ohren auf, sieht und hört nichts von Bedeutung und wendet sich dann von Neuem den Zwetschgen zu.
Nach einer Weile hört der Regen mit einem Schlag auf. Der Himmel gerät in Bewegung, die Rehe schrecken hoch, wissen offenbar aber nicht, was sie tun sollen und ducken sich nieder ins Gras. Ein Großteil der Wolken wird von Westen her weggeschoben und löst sich dann in Windeseile vollkommen auf.
Fast die gesamte Westhälfte des Himmels strahlt jetzt in schönstem Azur. Heftigster Wind kommt auf. Es wird unerträglich heiß, die nassen Blätter des Zwetschgenbaums fangen Feuer, ebenso die wenigen Wespen, die sich bei dem feuchten Wetter an die Zwetschgen getraut haben, die Rehe springen, wie auf ein Signal hin, ihr braunes Fell inzwischen zischend und dampfend, in Richtung Maisfeld davon, auf der Westseite des Hauses öffnet jemand ruckartig ein Fenster, man kann aber nicht erkennen, wer dort hinaussieht, der Himmel wird gelb, wird zu einer Flamme, die sich wie ein Blitz über die Landschaft senkt, alle Spuren verwischt und nichts zurücklässt als wüste, verrauchende Erde.