Sonntag, 29. August 2010

Auf der Skipiste



Fast vollkommenes Idyll. Teil der "Eroberung des Weltalls in 42 Trilliarden Teilen"


Folge 21 525 317 750:

Ein Schneefeld, schier unendlich weit, mit einem konstanten Gefälle von 15%. Vom Himmel, dessen Farbe Stahl- oder Eisblau ist, strahlt eine gigantische, hellgelbe Sonne.
"Oh, David, David, das ist die schönste Abfahrt, die ich je gesehen habe. Oh, David, es ist so wunderschön."
"Ja, es ist - affengeil."
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"Oh, David, ich liebe dich!
Laß uns irgendwo reingehen, ja, ich hab jetzt wahnsinnigen Hunger auf heiße Würstchen oder so."
"Hm, na ja,-"
Ndndndn
"Was sagt er?"
"Er sagt, hier gibt’s keine Würstchenbuden, und auch keine Almwirte."
"Was?.."
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"Oh, David, meine Beine! Ich kann nicht mehr! Auuu! Ich glaub, ich krieg einen Krampf im großen Zeh!"
"Schnell, zieh die Schuhe aus."
(Läßt sich in den Schnee fallen, zieht ihre Schuhe aus.)
"Jaa, das tut gut. Sag ihm, ich will jetzt sofort irgendwo einkehren, ja?"
Ndndndn.
"Er sagt, der nächste Platz zum Einkehren ist ein Friedhof in ungefähr vierhundert Kilometern."
"Mein Gott, was für ein Nest! Dann lass uns um Hilfe funken."
"Ich fürchte, das hat keinen Sinn. Der nächste Funkempfänger ist Lichtjahre entfernt."
"Und wieder zurückbeamen?"
"Nicht ohne Transporterstrahl, Liebes."
"Oh, David, wir sind verlo-horeen!"
"Komm, - wir - müssen - wieder - los. Vielleicht - schaffen - wir - es - bis - zu - zu - zum - Friedhof - ."
"Oh, David, schnief."
(Sie setzen sich wieder in Bewegung, stoßen sich ab mit ihren Völkl-Skistöcken, ziehen müde Schwünge auf ihren Carving-Skiern, drei Personen, scheinbar verloren in der unendlichen Weite der größten natürlichen Anfängerpiste des Universums. Zwei Menschen, ein zäher Modrosani. Die Sonne brennt unerbittlich.)
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d-d-d
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d-d-d
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d-d-d
"Auuuooh! Was murmelt er denn die ganze Zeit, David?"
"Er - lacht. Es - ist - das - modro - sanische - Lachen -."
"Oh, Da - vid -."
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(Fern am Himmel taucht ein kleiner Vespa-Raumtransporter auf.)
"Heiße Würschtln, Gulaschsuppen, Currywurscht!"
d-d-d
"Spaghetti, Pommes, Erbsensuppen!"
"Ha-llo! Hallo! Hilfee!"
"Jagertee, Glühwein, Rohrnudeln!"
"Hilfee! Wir steerben!"
d-d-d
"Ja wos habds denn? Habds an Durscht?"
"Jaa! Nehmen sie uns mit!"
"Des kost aber extra."
d-d-d
"Hier, wir haben VISA, Masters, Eurocard, Asiacard, Bertelsmann-Club-"
"Guad, des langt scho."
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(Die Vespa setzt sich wieder in Bewegung. Der Würstlmann sitzt pfeiferauchend am Steuerrad, Pam und David zittern, in Wolldecken eingemummt, auf den Notsitzen. Sie halten Tassen mit dampfendem Glühwein in ihren Händen. Pam hält die Augen geschlossen.)
"Danke, GOTT!"
(David guckt aus dem Fenster. Der Modrosani folgt ihnen mit seinem Blick, entspannt auf seinen gleitskierähnlichen Füßen stehend.)
"Pam, schau, unser Guide."
"Was tut er?"
"Er lacht immer noch."


Der junge Dichter

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Der junge Dichter


   Ein neunzehnjähriger junger Mann, dessen bisheriges Leben fast ohne größere Zwischenfälle verlaufen ist, sieht versonnen aus dem Fenster und dichtet.
   Schwer zu sagen, ob der junge Mann dabei glücklich ist oder nicht. Seit einigen Wochen durchdringt ihn ein Gefühl, wie er es an Stärke und Permanenz bis dahin noch nicht erlebt hat. Es ist ihm unmöglich, dieses Gefühl einzuordnen. Es gibt Tage, da erfasst es ihn mit solcher Heftigkeit, dass er daran, so kitschig und abgedroschen das für einen Außenstehenden klingen mag, schier zu verbrennen glaubt. Jenes Gefühl, das den jungen Mann so bewegt, ist die Sehnsucht nach einer Frau, die er nicht erreichen kann.
   Sie geht in einen anderen Abi-Kurs. Er hat Mathe und Physik, sie belegt Englisch und Biologie. Sie treffen sich oft im Vorbeigehen. Sie grüßt meistens freundlich, er möchte jedes Mal laut aufschreien, und bringt doch nie mehr als seinen üblichen Gegengruß zustande. Manchmal bemerkt sie ihn auch nicht, dann trifft sein Gruß nur ins Leere.
   Der junge Mann, er soll Jochen genannt werden, ist vollkommen ratlos. Sie ist das gescheiteste, witzigste und entzückendste Wesen, das er in seinem Leben gesehen hat. Sie ist das schönste Mädchen der Welt. Den Rest der Weiblichkeit an der Schule überstrahlt sie wie eine Sonne die Hundertschaften von grauen Planeten und Felsbrocken, die sie umkreisen. Er möchte schon über den Fußboden schmelzen, wenn er sie von weitem nur irgendwo sieht.
   Sie geht mit Schmilo, einem reichen Typen aus ihrem Kurs. Schmilo ist keine Leuchte. Er kämpft sich seit Jahren gerade noch so durch, das weiß jeder. Er ist aber nicht unsympathisch, die meisten mögen ihn gern, und was den Stil angeht, ist Schmilo dem männlichen Rest an der Schule um Lichtjahre voraus.
   Auch Jochen muss zugeben, dass die beiden ein berührendes Paar abgeben. Sie scheinen sich wirklich und ehrlich zu lieben. In Schmilos Beisein fühlt Jochen sich in seinem niemals aussetzenden Schmachten noch schwächer und verlorener als sonst.
   Es ist jetzt ein paar Wochen her, dass Jochen zufällig angefangen hat, im Homer zu lesen. Der leichte, meereshafte Rhythmus dieser Dichtung überwältigte ihn zu seinem Erstaunen total. Er hatte nicht geahnt, was man mit Rhythmus und Worten allein alles auszudrücken vermag.
   Das Buch ist schwer zu lesen gewesen, und auch wenn er nicht alles darin verstanden hat, er hat doch jede Zeile dieser Erzählung, jedes seltsame Wort dieser altertümlichen Sprache auf die innigste Weise genossen. Die Lektüre hat Fähigkeiten in ihm geweckt, von denen er bis dahin nichts geahnt hatte. Oft begleitet ihn jetzt eine Empfindung, als gingen die Worte, als ginge die Sprache aus allem was er liest und hört direkt in seine Gedanken über, als übernehme die Dichtung schließlich die Steuerung darüber, wie und was er selbst spricht. So ist mit einem Male auch er, ohne es selber zu wollen, zum Dichter geworden.
   An diesem Tage sitzt er, vollgestopft mit den Krapfen seiner Großmutter, eine halb ausgetrunkene Flasche Mineralwasser neben sich, am Schreibtisch seines Zimmers. Er sieht, den Kopf schräg zur Seite geneigt, aus dem Fenster. Dann wendet er sich seinem College-Block zu und schreibt Folgendes auf:

                                   In meinen Träumen
                                   fickte ich dich zwölf Mal.
                                   Wir lagen umschlungen
                                   ich strich dir langsam durchs Haar
                                   du lachtest mit deinem Munde
                                   und warst mein Entzücken
                                   so wunderbar...

   Ein Geräusch lässt ihn inne halten. Den Kopf noch übervoll mit der Vorstellung der geliebten Frau, steht er auf und tritt ans Fenster. Fern über dem Wald steigen majestätisch drei Atompilze in den Frühlingshimmel. Sie müssen schon mehrere Kilometer hoch sein. Jochen erkennt an der Oberfläche der Wolken feinste Details und Konturen, so als wären sie zum Greifen nah. Dann nimmt er wieder kleine, aufwallende Bewegungen an den Atompilzen wahr, und spürt, wie weit weg die Erscheinungen sein müssen.
   Die Gläser des Fensters fangen an zu klirren, der Boden unter Jochens Füßen erbebt leicht. Hinter dem Walde erhebt sich breit und unausweichlich wie in Zeitlupe eine gigantische Feuerwalze. Zu Anfang wirkt sie fast statisch. Dieser Eindruck aber täuscht völlig und rührt von ihrer unvorstellbaren Größe her. Einem Geschoss gleich schnellt die Walze heran, und innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde rollt sie über den jungen Mann, das Haus seiner Vorfahren, seine Hoffnungen und endlich über den ganzen Landstrich hinweg.


Samstag, 21. August 2010

Eine vollkommen lächerliche Clownsfigur



Eine vollkommen lächerliche Clownsfigur sieht aus einem geöffneten Fenster. Sie steht allein, im Dunkel zu sehen: nächtliches Feuerwerk.
Subtext: "Um Mitternacht Blick aus dem Fenster. Mit eindringlichsten Empfindungen der Gedanke: Wenn ich bei dieser Kälte jetzt draußen sein müsste, ich würde selbst in einem Pelzmantel innerhalb von Minuten verrecken."


In einem japanischen Gefängnis bei Sushi und Brot



In einem japanischen Gefängnis bei Sushi und Brot.


Jedes Problem, letztlich jeder Moment als Chance



Jedes Problem, letztlich jeder Moment als Chance zur Entwicklung seiner selbst, seiner Person zu sehen.


Freitag, 20. August 2010

Wie wir uns kennen lernten - Teil 1


 
Vermutlich rundeste und geschlossenste der mit einem Kommentar aus dem 21. Jahrhundert und mit dem Titel "Aus der Welt des 21. Jahrhunderts" versehenen Arbeiten.
Schauplatz der Handlung: Eine reaktionäre Beziehungsagentur in der Zukunft.
Passagenweise die Gag-Dichte sehr hoch, sogar ein Beckenbauer-Witz wurde lohnend und nicht ohne Doppelbödigkeit untergebracht.
 

Aus der Welt des 21. Jahrhunderts


Wie wir uns kennenlernten

Es war ein traumgleicher Sommermorgen. Ich saß im Speisewagen des Schnellzugs München-Augsburg und hielt, während die Kellnerin mir das Frühstück servierte, meinen Blick aus dem Fenster gerichtet. Die Sonne, die sich im Osten gemächlich über den Horizont erhob, tauchte die Landschaft in verzaubertes Licht. Kleine verschlafene Dörfchen zogen vorüber, üppig goldene Weizenfelder, hochgewachsener Mais, dessen Kolben, Zeichen ihrer angehenden Reife, wie kümmernde Ärmchen schräg in den Himmel ragten.
Aus den Lautsprechern zwitscherten Vögel fröhlich ihr Morgenkonzert.
Die Kellnerin gefiel mir. Fachmännisch schenkte sie mir meinen Schonkaffee ein. Geübt bediente sie den Eierköpfer. Ihr Lächeln war keineswegs geheuchelt, es kam von Herzen, wie ich mit der untrüglichen Menschenkenntnis, wie sie allen wahren Vertretern meines Berufsstandes zueigen ist, sofort erkannte.
Sie gefiel mir ausnehmend gut. Schlank, großgewachsen, die Hüften schmal, der Haaransatz ungewöhnlich kräftig. Ihr Gesicht umgab eine Aura von Zeitlosigkeit. War sie erst zwanzig, gerade eben beginnend, die Welt um sich und ihren Körper bewusst wahrzunehmen, oder war sie fünfzig, in der Seele gezeichnet von zahllosen Erlebnissen, Abenteuern, Enttäuschungen, schmerzvollen Erfahrungen und Leidenschaften, die selbst den Ansprüchen einer Fürstin Genüge geleistet hätten?
Ich betrachtete ihre Stirn, die glatt und zart war, jedoch keine Codenummer trug. Die Schöne schien somit keiner Agentur anzugehören und war momentan wohl vergeben...
Oh, glückseliger Unbekannter, der du diese Perle fandest unter der Unzahl  unwürdiger Möchte-nun-auch-so-sein-Damen!!
Während ich mit genussvoller Langerweile mein Frühstück verzehre, durchquert der Zug die Vororte von Augsburg. Harmonisch fügen sich die alten Kleinbürgerhäuslein mit den neuerrichteten Solarblöcken und Ladenzeilen zu einem Herz und Gemüt ansprechenden Äußeren. Die Sonne leuchtet bereits kräftig durch die Straßen und der Himmel, weißblau wie unsere Landesfarben, lässt den nachdenklichen Menschen sich erinnern an vergangene, bessere, selbstbewusstere, an königliche Zeiten.
Mit beendetem Frühstück fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Ich nahm Aktenkoffer, Trench-Coat, warf meine Lodenjoppe über die Schulter, wanderte gelassenen Schrittes zur Waggontür und stieg aus.
Eine milde Brise wehte über den Bahnsteig. Geschäftsleute tummelten sich und schlugen rasch den Weg zu den Taxis ein, blutjunge Tramperinnen und Studentinnen warfen sehnsuchtsvolle Blicke auf Männer, die nach dickem Porte Monnaie rochen. Auch ich fiel ihnen sofort in die geschminkten Augen.
Hübsche Häschen, dachte ich mir, mehr aber auch nicht.
Natürlich wusste ich, dass all die Backfischchen, die am Bahnhof herumhingen, zu schlecht für die Agenturen waren, oder einfach drogenabhängig. Immerhin, einige konnten es gut vertuschen. Wer weiß, wenn ich bei Lulu nicht fündig würde, vielleicht würde ich des Abends mit einem dieser bitter-süßen Käferchen noch einen Blick ins Foyer des Intercity-Hotels werfen.
Ich schlenderte, tief die gute, würzig-bayerische Luft einatmend, zum Kiosk und kaufte mir ein Päckchen Monarch-Zigaretten. Schon beim ersten Zug wurde mir mit erschütternder Klarheit bewusst, wie sehr diese südbayerische Marke für mich Heimat bedeutete, wie viel mir die Heimat selbst bedeutete.
Ich stieg die Treppe vom Ausgang zum Vorplatz hinab. Die beiden Löwen, die wachend zu Seiten der Treppe mit bedrohlich aufgerissenen Lefzen saßen, ließen mich lächeln, gaben mir aber auch unbewusst ein Gefühl von Sicherheit, ähnlich wie jene altersweisen, freiheitsmutigen Leun der mächtigen Münchener Feldherrnhalle, die nun schon seit Jahrhunderten die dort thronenden, glanzvoll in Bronze gegossenen Heerführer behüten.
Auf einen Wink von mir schnurrt ein Taxi heran.
"Zu Madame Lulu." sage ich, und die Chauffeuse, eine etwa siebzigjahrige Brünette mit dem Ehrenzeichen der Kling-Agentur, steuert mit geübten Handgriffen auf die Straße.
Nach etwa einer Minute zurückgelegten Weges durchqueren wir den neuangelegten Ingeborg-Ränderbländel-Park. Mächtige Königssequoyas stehen hier in geschmackvoller Anordnung neben Lindenbaum, Ahorn und der Hecke, dem Lieblingsbaum unseres ehemaligen Kaisers Franz Beckenbauer.
Inmitten dieses von sattem Grün und Braun träufenden und von hoheitlichem Weiß-Blau beschimmerten Idylls kreuzt mein Taxi eine Gruppe etwa hundertundfünzig edler Laufmädel. Sie alle tragen die goldfarbenen Höschen und Stirnmale der Agnetha-und-Anathefka-Agentur, einem der besten Häuser hier am Platz. Sittsam wippen ihre maßgerechten Brüstchen im Takt des federleicht hüpfenden Gleichschritts.
Für einen Moment verliere ich mein Ziel aus den Augen...
Aber nein! Diese Görls kenne ich zur Genüge. Sicher, gut erzogen, internationales Flair, sehr genügsam oft, aber wie schnell wird man ihrer müde! Wie schnell wird man doch gewahr, dass ihre Heimat ganz woanders liegt, dass in ihren schlanken Körpern ein schales Feuerchen brennt, das beständig und immer stärker ruft: Nach Hause!! Sie sehnen sich nach einem Leben, das ihrer Geburt, ihrem Volke entspricht, nach einem leichteren Leben, einem Leben, das weniger von Schwere, Disziplin und hoher Geistigkeit bestimmt ist, das weniger im übermächtigen Licht unserer Heimat und der göttergleichen Kunst Richard Wagners besteht. Es ist wahr, nur die wenigsten sind hierzu geschaffen, die allerwenigsten sind Frauen und leider, fast nur die bayerisch-deutsche Frau ist dazu fähig.
Zwei Minuten später und die Länge einer Monarch weiter erreicht der BMW das alte Fugger-Haus, den Sitz Madame LuLus.
Ich bezahle großzügig, wissend, mit welchen Renten die Ladenhüterinnen der Agenturen abgefertigt werden, die Portiere eilt herbei und öffnet schwungvoll, aber nicht überhastet die Türe.
Ich steige aus.
"Grüzi, der Herr!" sagt die Portiere ganz unbekümmert, ihren Schweizer Akzent selbstbewusst nicht mit Schriftdeutsch überschattend. Das Mädel gefällt mir!
Ich stelle mich vor, zücke bescheiden meine Karte.
"Madame empfängt sie persönlich." spricht die Portiere mit niedergeschlagenen Augenlidern. Ich lächle, begebe mich zum Eingang, das Mädel folgt unauffällig. Im Umdrehen lese ich noch den Namen neben der Codenummer auf ihrer Stirn. Vreni! Ich möchte sie küssen.
Man erkennt LuLus Erziehung. Vreni spürt meinen Wunsch. Am Eingang angelangt reckt sie mir bescheiden ihre geöffneten Lippen entgegen. Ich küsse sie lang und fest, gebe großzügig Trinkgeld und schreite ins Haus. Vreni wendet, mit makellos weißen Zähnen lächelnd, ihr zöpchenumspanntes Köpfchen und harrt pflichtbewusst der erwarteten Kunden.
Am Empfang erwartet mich bereits Madame LuLu, ihr zur Seite die knackig rothaarige, sommerbesprosste Empfangsdame.
"Mein 'err, wie schön sie wiederzusehen." ruft Madame voll Entzücken und drückt mir hochachtungsvoll Küsschen auf beide Wangen.
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Madame." erwidere ich, indem ich mich halb verbeuge.
Sogleich führt Madame LuLu mich in den Salon und erkundigt sich diskret nach dem Grund meines Erscheinens, während sie oberflächlich ganz charmant über Industrie-Katalysatoren plaudert. Ich gebe bereitwillig Auskunft.
Wir nehmen beide in den bequemen, mit rotem Sammet überzogenen Sesseln Platz, indessen Madame über ein in ihrer Frisur verborgenes Mikrofon kurze, prägnante Anweisungen gibt.
Die fünf Sitzreihen, die aus fünfundzwanzig bequem verteilten, identischen Sesseln bestehen, sind leer, bis auf die beiden von uns occupierten Sitze und einem Platz in der letzten Reihe, in der ein völlig betrunkener Finne mehr liegt als sitzt. Madame und ich ignorieren ihn. Ohne uns darüber verständigen zu müssen, wissen wir beide: Nur sein Geld brachte ihn hierher.
Vor uns liegt der Laufsteg, fünf Meter breit, siebzehn Meter lang, Parademaß, ausgelegt mit azurnem Atlas und aufgespritzten weißen Farbklecksen, die Nationalfarben des Vaterlandes. Madame durchschaut meinen Blick, sie weiß, ich schätze ihren Stil, obwohl sie gebürtige Französin ist.
In diesem Moment hebt aus dem dezent verborgenen Lautsprechersystem gepflegt swingende, an klassische Zwiefache erinnernde Agenturmusik an. Ich erkenne Bewegungen hinter dem Vorhang, und schon tritt die erste Kandidatin heraus.
"Bettina!" flüstert mir LuLu ins Ohr."Ich biete sie erst seit zwei Tagen im Hauptprogramm an, und lang wird sie wohl nicht mehr bleiben..."
"Das kann ich mir lebhaft vorstellen." pflichte ich bei, indem ich ruhig meine Unterlippe knete und im Geiste Bettinas Maße nehme. Excellente Qualität. Lang, blond, ein Lächeln wie ein Sonnenaufgang im Hochgebirge. Der Dirndlbikini steht ihr vorzüglich.
"Was kann sie so?" frage ich betont unbeteiligt, während Bettina sich schwungvoll und mit gutem Rhytmusgefühl vor meiner Nase im Kreise dreht.
"Agraringenieurin." beginnnt LuLu aufzuzählen. "Erbte einen Vierhundert-Hektar-Bauernhof. Seit zwei Jahren Geschäftsführerin der Mieder-Düngemittelwerke AG."
Nicht schlecht, aber wer kann wissen, was noch kommt? Immerhin sind hier Entscheidungen für die "Ewigkeit" zu treffen. Ich setze Bettina auf die Warteliste und LuLu gibt Anweisung, die nächste Kandidatin hereinzulassen.
Der Vorhang fliegt hoch und auf tritt "Brünnhilde", mit wallendem braunem Umhang, brauner Leinenleibwäsche und einer Art Wikinger-Eselskappe.
Noch bevor ich mich vorsichtig räuspern kann, stellt 'Bruni' sich vor mich hin und keift:

                   Oh ja,
                   Ihr seid's wirklich,
                   Mit Knien wie Ambosse
                   Und Muskeln wie unreifes Obst!
                   Was mir an Euch gefällt?
                   Nichts!!
                   Höchstens Eure Hirne, die mit
                               Stecknadeln konkurrieren.

Wutschnaubend und mit Kuhaugen glotzt Brünnhilde mich an.
"Das ist doch nicht ihr Ernst?" wende ich mich so hilfesuchend wie auch unsagbar erheitert an LuLu.
"Nein" lacht LuLu mit vorbildlicher Zurückhaltung und immer noch mit, trotz ihres Alters, attraktiv aufwärts gewölbter Oberlippe. "Brüni ist nur ein Gag. In Wahrheit heißt sie Marlene, ist Schauspielschülerin und verdient sich gelegentlich bei besonders gern gesehenen Gästen durch diese kleine Rolle ein bescheidenes Zubrötchen."
Ich nehme das Kompliment geschmeichelt mit dem Kopfe nickend an und lache schallend los ob dieses köstlichen und überraschenden Uzes.
Marlene verbeugt sich augenzwinkernd und tänzelt hinter die Bühne zurück. Noch völlig erhitzt von Spaß und Effekt der Überraschung erwäge ich, Lulu zu fragen, ob nicht auch Marlene bei Bedarf noch zu werben sei.
LuLu ahnt, woran ich denke.
"Ich bedaure" seufzt sie. "So gern ich sie in mein Sortiment aufnähme, Marlene ist bereits versprochen, an einen entzückenden jungen Schauspieler, der keinen Pfennig in der Tasche trägt."
Ich ziehe fragend eine Augenbraue, aber Madame LuLu bedauert nun entschieden:
"Es tut mir leid, Monsieur Schleif, aber in diesem Fall ist absolut nichts zu machen."
Ich gebe mich sanft lächelnd zufrieden, stecke mir noch eine Zigarette an. Wozu Diskussionen? Frauen sind käuflich! Zu viele Schwestern Madame LuLu's haben mir dies in meinem Leben bereits bewiesen! Doch ich lasse mir nichts anmerken. LuLu spricht neuerlich Anweisungen ins Mikrofon.
Aus LuLu's wissend verkniffenen Lippen schließe ich, dass sie nun ihren größten Trumpf auf die Planche holt und unwillkürlich setze ich mich auf.
LuLu's Ruf als beste Kupplerin im Lande kommt nicht von ungefähr, und wenn sie jemanden so gut kennt wie mich, dann ist sie es, die meine Frau fürs Leben kennt.
Die Scheinwerfer verdunkeln sich, der Vorhang hebt sich. Es erscheint---eine Silhouette zuerst. Der Spot fliegt an.
Schon im ersten Moment bin ich geschlagen, gefesselt, kampflos besiegt, K.O. mit dem ersten Gongschlag.
Dieser Körper, dieses dunkelblonde Haar, unbeschreiblich, ihr Blick, ihr Gesicht...
"Sie, und keine andere!" will ich schon rufen, aber LuLu ist noch im Zweifel und legt gehörig nach.
"Eva!" flüstert sie mit einer Stimme wie Blütenhonig, zu mir herübergebeugt. "Tänzerin, Millionenerbin, bis zum heutigen Tage war nur die Ar-beit, und nichts als die Ar-beit ihr Interesse."
Mir wässern die Mundwinkel. Was will ich mehr? WAS WILL ICH MEHR?
LuLu ahnt das gute Geschäft, geht auf Nummer sicher, setzt noch einen drauf: "Mein 'err, vor ihnen liegt ein unbestelltes Feld..."
"Wieviel?" frage ich mit Maskengesicht, die stieren Augen auf jene beinah biblische Eva gerichtet, die im Handstand gerade einen Spagat vollführt.
"Ich bin mir sicher, wir können eine schnelle Einigung erzielen, Monsieur Schleif, auch wenn eingedenk der hervorragenden humanistischen und musikalischen Ausbildung, welche Mademoiselle Eva genoss, der Preis angemessenerweise sich in höchsten preislichen Regionen bewegen muss."
"LuLu, du kennst meine Brieftasche." sage ich wie paralysiert.
Nun ist Madame zufrieden und klatscht kurz in die Hände, woraufhin Eva ihre Übungen beendet, sich umdreht, ihr Badekostüm aus wenigen Feigenblättern, das ich in diesem Moment wie nichts auf der Welt beneide, im Innern eines ihren Körper umschließenden, rotglänzenden Umkleide-Kaftans ablegt und ihre wichtigsten Körperteile mit rotseidener Leibwäsche bedeckt.

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Wie wir uns kennen lernten - Teil 2



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Die Preisabmachung, jene etwas kindische und dem Gegenstande eigentlich unwürdige Feilscherei, die in allen guten Agenturen Tradition hat, findet in Madames privatem Büro statt.
Dunkelblaue Atlasseide überall von den Wänden hängend, Vorhänge ersetzend, ein Mohr aus purem Gold, auf dessen dargereichtem Tablette köstlichstes Kaufbeurener Konfekt aufliegt, kostbare Drucke von Bosch und Bacon auf ausladenden Staffeleien und an den Wänden hängend, ein Meer von Schmuck und Accessoires, deren Beschreibung Tage und viele Dutzend Seiten in Anspruch nähme.
LuLu spielt mit einer glänzenden, frisch geschmierten Lederknute aus dem alten Rom.
"Eine Million" sagt sie.
"Zehntausend, mein letztes Wort." meine Erwiderung.
"Einhunderttausend!" sagt LuLu und klopft wütend auf den Tisch.
"Ich bitte sie, LuLu." lache ich. "Eva ist eine Frau, sie sind eine Frau. Zehntausend und keinen Pfennig mehr."
LuLu starrt auf ihre Schreibunterlage mit Neuschwanstein-Motif. Sie atmet schwer.
"Zwanzigtausend" knurrt sie wie eine Wildkatze.
"LuLu!" warne ich gebieterisch und packe sie fest mit meiner Linken an ihrem linken Handgelenk. "Ich habe nicht ewig Zeit! Ich bin Künstler."
"Au, sie tun mir weh!" quietscht die immer noch quirlige Französin. "Sie Scheusal! AAArgh!"
"Na gut, zehntausend." keucht sie schließlich.
Ich lasse schnaubend von ihr ab. Manche Traditionen ekeln echte Männer an.
Ich ziehe einen Scheck aus der Tasche, auf den ich bereits vorher den für mich feststehenden Preis notiert hatte.
LuLu bedankt sich und versteckt den Scheck am unsichersten Platz im ganzen Haus, in ihrem weitem Ausschnitt. Ihre Stimmung normalisiert sich wieder.
"Verhandlungen mit ihnen sind für mich immer wieder ein Genuss, Monsieur Schleif." schwärmt sie.
"Der Genuss ist ganz auf meiner Seite." gebe ich noch etwas herrisch, aber schon wieder mit erkennbarem Schalk zurück.
Plaudernd bewegen wir uns in Richtung Ausgang, wo wir kurze Zeit warten müssen, weil Eva sich noch mit Packen beschäftigt. LuLu beklagt sich etwas übers Geschäft.
"Ach," seufzt sie "all die jungen Männer heutzutage, sie glauben, die Auswahl und Erziehung schöner Frauen würde nichts kosten, sie denken, es wäre umsonst, so wie in ihren Computersimulationen!"
"Ja, die Zeiten sind arg." pflichte ich bei.
"Ich musste mir schon Wachmänner anstellen, um meine Mädchen angemessen zu beschützen. Wachmänner sind nicht billig, aber wenn ich daran denke, dass eines meiner Mädchen von einem dieser Schurken entführt werden könnte...in die Mongolei, oder gar nach Sibirien!"
Erst jetzt fallen mir einige Männer, die sich geschickt, mit Maschinengewehren und Panzerfäusten bewaffnet, hinter Bäumen, Hecken und Hausecken verstecken, ins Auge. Niemand würde sie auf den ersten Blick erkennen. Es müssen wirkliche Spezialisten sein. Die Männer an den Hausecken tragen Kleidung und Hautcreme in der Farbe der Hauswand. Ein verblüffender Effekt.
Ja, die Zeiten sind mühsam und schwer, indes: Ist es nicht ein gutes Gefühl zu wissen, dass das sittlich Gute noch immer weit klüger, ästhetischer und gewinnbringender agiert als der Abschaum? Ohne Zweifel würden die Männer jeden verdächtigen Streuner in LuLu's Garten umgehend kaltstellen.
"Und Sandra?" fragt LuLu diskret. "Es hat wohl nicht so gut geklappt?"
Sandra ist meine geschiedene Frau. LuLu hatte sie mir vor etwa drei Jahren vermittelt.
"Nun ja," lächle ich "es war nicht ihre Schuld, LuLu. Man lebt sich auseinander. Wir hatten eine herrliche Zeit, und nun ist sie vorbei. Das Leben geht weiter."
Wir verharren einige Momente in Schweigen.
"Und was macht Sandra jetzt?" fängt LuLu wieder an. Sie weiß genau, dass Sandra noch immer der Star ihrer Agentur wäre.
"Sie hat wieder geheiratet. Einen Talkmaster. Benny Dumm. Den Dümmsten und den Reichsten."
LuLu nickt verstehend und sagt nichts mehr.
Im nächsten Augenblick walzt Eva heran, zwei riesige Koffer unter ihren Armen und eine ausgebeulte Reisetasche um ihren Hals geschlungen. Ihr Kopf leuchtet rot, wohl weil die Tasche ihr den Hals abdrückt.
"Entschuldige Liebling." haucht sie und drückt mir einen zarten Kuss auf die Wange. "Entschuldige die Verspätung, ich musste noch alles zusammenpacken, du kamst aus so heiterem Himmel..."
"Es ist schon in Ordnung, Liebes." tröste ich sie. "Aber jetzt drängt die Zeit. Wo steht dein Auto?"
"Da, vor der Einfahrt." sagt sie und deutet angestrengt mit ihrer linken Hand.
Ich drücke LuLu ein Trinkgeld in die Hand, Eva verabschiedet sich von ihrer alten Erzieherin noch mit Küsschen und Tränen. Eine Minute später schlendern wir zu Eva's BMW Beauty 2001.
In kurzer Zeit hat Eva ihr Gepäck verstaut, und schon brausen wir los.
Während Eva lenkt, sieht sie immer wieder verliebt zu mit rüber. Sie kann sich kaum losreissen, was im Stadtverkehr nicht ungefährlich ist.
"Schau lieber auf die Straße!" lache ich. "Sonst demolierst du noch irgendwas!"
Eva bricht ebenfalls in Gelächter aus. Ihr Humor stimmt, denke ich mir.
Später, wir befinden uns bereits in voller Fahrt über die Autobahn, werde ich langsam schläfrig.
"Ruh' dich nur aus, Liebling." haucht Eva und zieht mir eine weiche Wolldecke über den Körper.
Wir fahren einer wunderbaren, gemeinsamen Zukunft entgegen. Noch während ich einschlafe denke ich an morgen. Eva glaubt, sie müsste zur Arbeit, weil am Abend die Uraufführung ihres neuen Balletts in einem Avant-Garde-Theater gezeigt wird. Nun, sie wird nicht zur Arbeit müssen, denn morgen werden wir getraut, in Schloss Linderhof, jener prachtvollen Anlage, in welcher unser Märchenkönig, wären ihm denn noch ein paar Jahre weiteren Lebens vergönnt gewesen, vielleicht ebenso vor den Traualtar geschritten wäre.
Wie Eva sich freuen wird!


Sie lasen: 'Wie wir uns kennenlernten' von Josef Schleif.


Der Text, der in den Vierziger Jahren des 21. Jahrhunderts in "Traumjungs, dem Science Fiction-Magazin für Männer mit dem gewissen Etwas" erschien, vermittelt deutlich, in welcher Situation ein Großteil der männlichen Bevölkerung Mitteleuropas sich zu jener Zeit in Beziehung auf das andere Geschlecht befand.
Rufen wir uns in Erinnerung: Das 21. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Übergangs, so zerrissen wie vorangetrieben von den Schwächen und Gegensätzlichkeiten des größtenteils noch originären menschlichen Körpers. Die Schlagworte jener Zeit lauten: Wachsende Überbevölkerung durch vorherrschende und kaum kontrollierbare Mutterleibsschwangerschaft, daraus folgender Nahrungsmangel, weiter gesteigert durch unwirtschaftliche, größtenteils natürliche Produktion von Lebensmitteln, Überalterung der Gesamtbevölkerung bei gleichzeitiger biologischer Verjüngung älterer Bevölkerungsschichten, Kampf der Robotik mit dem Ziel vollkommener gesellschaftlicher Anerkennung, Zwang zur Unterdrückung irrational handelnder und eine Gefahr darstellender Teile der Weltbevölkerung, beginnender Weg zu allgemeiner Glückseligkeit zirka ab dem Jahr 2099.
Ein Problemfall blieb auch im 21. Jahrhundert die Geschlechtertrennung mit ihren Möglichkeiten, zahllose Irrtümer, Fehlleistungen und Konflikte zu generieren. Wie in Urzeiten waren Frauen noch Frauen, Männer gezwungen, Männer zu sein. Die Möglichkeiten nämlich, Geschlechter zu adaptieren, zu addieren oder gar umzukodieren, zeigten sich damals noch sehr mangelhaft und waren nur im äußersten Notfalle zu empfehlen. Somit herrschte faktisch Geschlechterzwang.
Wie äußerte sich nun diese Geschlechterdifferenz?
Im Lauf des 21. Jahrhunderts war die Gleichberechtigung der Frau endlich und erstmals wieder zu gesellschaftlicher Faktizität gelangt. Das Patriarchat, das die offizielle Geschichte fast der gesamten Welt vorher über mehrere Jahrtausende dominiert hatte, war im Verlauf von nur kurzer Zeit, etwa 130 Jahren nämlich, größtenteils verschwunden, es hatte sich im Verlauf von gut hundert Jahren fast zur Gänze aufgelöst. Diese historisch gesehen rasche Entwicklung, die anfangs nur wenig beachtet, ja oft als Aufschrei von Gesetzlosen und Außenseitern betrachtet worden war, zeitigte nun, an ihrem Ende, Auswirkungen von höchster Schlag- und Eindruckskraft, zur Überraschung so manchen Mannes.
An die höchsten Stellen von Häuptling, König, Kanzler, Magnat oder Manager traten nun plötzlich vermehrt und mit gleicher Kraft Häuptlingsfrau, Königinin, Fraukanzler, Magneta oder die examinierte Betriebsverwaltungsfachleiterin.
Da die Frau, jenes Geschlecht, das sich lange unter der Vorherrschaft des Mannes bescheiden hatte müssen, nun Gelegenheit bekam, sich frei zu entfalten, zeigte sich, dass Frauen, unter diesen neuen Voraussetzungen, in vielen Gebieten dem Manne gleichwertig, nicht selten sogar fähiger waren. Frauen drangen vor in die Spitzen der Politik, zeigten sich kulturell engagiert und oft wegweisend, sie dominierten mit Hilfe neuer chrirurgischer Methoden sogar die sportlichen Ligen der Welt. Es war eine Frau, nämlich Susan Ben Hildesheimer, die mit ihren Techno-Steps den Hundert-Meter-Weltrekord erstmals auf unter acht Sekunden schraubte. Große Erfindungen gelangen nun ebenso Frauen, sie führten die großen Konzerne der Welt und manchmal durchaus nebenbei noch immer den Haushalt. Man denke nur an Roswitha Dorfhuber, der legendären Solarmagneta von Zwiesel. Es besteht kein Zweifel, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der sich unaufhaltsam entfaltenden Frauenpower, oder, wie die Zeitung "Supergirl-BILD" es einmal nannte, "Frower" war.
Viele Männer befiel in jener Zeit eine existentielle Leere. Was sollten sie tun, wenn sie nicht mehr zu bestimmen hatten? Woran sollten sie sich freuen, wenn sie ihre Frauen nicht mehr terrorisieren konnten, wenn im Fernsehen und auf dem Sportplatz die Helden plötzlich Frauen waren und Männer immer mehr die Verlierer?
Bedenken wir noch einmal: Im 21. Jahrhundert wurden die Menschen noch ohne Zwitterfunktion geboren. Sie war noch nicht einmal bekannt. Viele Jahre mussten noch vorübergehen, bis Sing seine Methodik im Jahre 2112 veröffentlichte. Die Menschen jener Zeit besaßen jeweils nur Merkmale des einen Geschlechts, die sie nicht ohne größere Schwierigkeiten wieder abändern lassen oder umtauschen konnten. Sie waren zu ihrem Geschlecht gewissermaßen verurteilt.
Hinzu kam der Gen-Faktor. Aufgrund genetischer Festsetzungen, die sich damals nur schwer und unter mancherlei Verlusten umeichen ließen, gebar eine Frau im Durchschnitt mehr Jungen als Mädchen. Diese Differenz gewann erst Anfang des 21. Jahrhunderts, da es in Mitteleuropa erstmals über mehrere Generationen keine bedeutenden Kriege mehr gab, die Männer in überdurchschnittlicher Zahl reduzieren konnten, an Bedeutung. Die Rolle der Brutautomatik war, auf die Gesamtzahl der Geburten bezogen, noch unbedeutend. Auch genoss sie noch wenig gesellschaftliche Anerkennung.
Mit jedem Jahr mehrten sich nun die Männer, die keine Frau fanden, obgleich sie sich um weibliche Partner bemühten. Die Frauen machten sich in dieser Situation rar und wählten sich logischerweise nur Partner, die ihnen zusagten, nicht immer nur männliche, und wenn, dann oft nur auf Zeit. Millionen blieben dabei auf der Strecke. Hässliche, Arme, unglücklich Geschiedene, Arbeitslose, Machos, Männer mit zu breiten Hüften, alle Unangepassten, die nicht gleichzeitig cool waren.
Folge war, dass die Suche und das Werben um Geschlechtspartner einen großen Teil der Zeit der Männer in Anspruch nahm. Es ist offensichtlich, dass viele davon trotz ihrer Anstrengungen ohne Erfolg blieben. Diese Männer suchten nach Ersatzbefriedigung, die sich dann auch schnell einstellte.
Wichtig war für jene Männer vor allem, dass sie miteinander reden konnten, dass sie einem guten Freund ihr Leid klagen konnten. So bildeten sich innerhalb kurzer Zeit Talkshows, Zeitschriften und zahllose Kommunikationskreise. Bald existierten derartige Männertreffs in so großer Zahl, dass manche Frau sie abfällig als Pest, Bierkränzchen oder Treffpunkt für Jammerlappen bezeichnete. Doch der Wille zu trösten, und sich trösten zu lassen, machte auch vor solch leichtfertigen Demütigungen nicht Halt. Die Verlierer trafen sich weiter, und distanzierten sich solcherart auf die ihnen eigene Weise von ihrer Bestimmung.
Eine besondere Erscheinung unter den Männerzeitschriften jener Zeit waren Science-Fiction-Magazine. Hier äußerten sich schriftstellerisch begabte Männer über ihre Probleme, indem sie sich gesellschaftliche Zustände und Erfindungen für die Zukunft ausmalten, die ihre gegenwärtigen Leiden zu lindern vermochten. Diese Zeitschriften hatten großen Einfluss auf Bevölkerung und Wissenschaft ihrer Zeit. Viele Männer lernten durch diese Reflexionen, sich mit ihrem Schicksale abzufinden, Frauen lernten, jenen unbekannten Kontinent, den sensiblen Mann, besser durch sie zu verstehen, die Wissenschaft wurde durch künstlerische Visionen angespornt, dem Mangel durch technische Lösungen Abhilfe zu verschaffen. 
Bedeutende spätere Erfindungen wie der VibraMax-Automat oder die Entdeckung des Zwitter-Gens wurden erstmals in solchen Männer-Science-Fiction-Magazinen konzipiert.
Der hier vorliegende Text 'Wie wir uns kennenlernten' von Josef Schleif schildert eine Gesellschaft, in der Frauen sich ohne tückische Hinterfragungen und Abwägungen sowie Prüfungen der Bankkonten bereiterklärten, Bindungen mit Männern einzugehen. Fraglos gehört diese Geschichte zu den etwas weit hergeholten Utopien jener Zeit, war aber in ihrer Art durchaus nicht ungewöhnlich. Die Stadt Augsburg war damals übrigens tatsächlich etwas wie das deutsche Zentrum für Partnervermittlung, wenn die Realität sich auch geringfügig anders darstellte. Fast nur Männer waren in die Karteien der Computer eingetragen, Frauen hatten es meist nicht nötig, sich für die Partnerwahl an Institute zu wenden, weshalb die Partnervermittlung damals insgesamt kein einträgliches Geschäft darstellte, sieht man von homosexuellen Beziehungen ab.
Der Autor Josef Schleif ist auch aus einem weiteren Grunde interessant. Als Vertreter der föderalen Bewegung innerhalb des geeinten Europas erzielte er im deutschsprachigen Raum große Erfolge. Patriotische und rassisch verquaste Tendenzen schimmern auch in diesem Text durch. Zu Schleifs wichtigsten Werken gehören die Romane 'Sturm über Augsburg', 'Augsburg und München retten die Welt', 'Die preußische Frauenverschwörung' sowie die umstrittene Fernsehdokumentation 'Ludwig lebt!'.